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Eine bedrängend nahe Vergangenheit

Die Erinnerung an den Holocaust kann verschwiegen und verdrängt, in Standard-­Gedenkveranstaltungen abgehakt werden. Sie kann aber emotionale Qualität gewinnen, so wie im Musical „Die Kinder der toten Stadt“.

Paderborn
Karl-Martin Flüter

Öffentlich vorgestellt wurde „Die Kinder der toten Stadt“ als Musik-­Hörspiel und Album am  23. Januar 2018, auf den Tag genau 74 Jahre nach den Ereignissen im KZ Theresienstadt, die der Aufführung zugrunde liegen. 1944 studierte der Komponist Hans ­Krása mit Kindern in Theresienstadt eine Kinderoper ein. Damit wollten die Nationalsozialisten ausländischen Beobachtern vortäuschen, es gehe den Menschen in dem „Vorzeige-­KZ“ gut. Ein Film, der die Proben dokumentierte, diente demselben propagandistischen Zweck. Doch die Nazis handelten nach einem zynischen Kalkül. Nach den Aufnahmen wurden fast alle Beteiligten deportiert und ermordet.

Die Idee, daraus ein Musikstück zu machen, hatte die Paderbornerin Dr. Sarah Kass. Sie hatte ihre Doktorarbeit über erhaltene Kinderbriefe aus Theresienstadt geschrieben und dachte darüber nach, wie über den Holocaust so informiert werden könnte, dass auch Jugendliche interessiert sind. Vielleicht mit Musik, Rock und Pop?

Staatliche Zuschüsse

Als Sarah Kass in der Erinnerungsstätte Yad Vashem in Israel recherchierte, lernte sie Dr. Gideon Greif kennen. Der Professor war in Yad Vashem Forschungsleiter und Dozent. Er ermutigte Sarah Kass, an ihre Idee zu glauben. Zurück in Deutschland fand sie in dem Paderborner Musiker und Produzenten Lars Hesse und dem Frankfurter Autor Thomas Auerswald zwei Mitstreiter, mit denen sie das Trio bildete, das das Musical schrieb, komponierte und organisierte.

Weil die Landesregierung, besonders die Antisemitismusbeauftragte in NRW, Sabine Leutheusser-­Schnarrenberger, aber auch die Bundesregierung die Idee und ihre Umsetzung gut fanden, flossen staatliche Zuschüsse. Die Schauspielerin Iris Berben erklärte sich bereit, als Schirmherrin das Projekt zu unterstützen.

Die Arbeit an dem Stück dauerte Jahre. Texte und Noten umfassten am Ende mehr als 900 Seiten. Eine CD und ein Hörspiel entstanden. Sogar drei Singles wurden aus der CD ausgekoppelt. Die Premiere fand im Frankfurter Papageno-­Theater statt. Die Kritiken waren gut, die Rückmeldungen von Profis wie Iris Berben überschwänglich. Doch dann begann Corona. Das Projekt war für mehrere Jahre auf Eis gelegt.

Der Domchor und die Mädchenkantorei des Domes waren an den Aufnahmen für das Musical beteiligt – im Bild Domchor-­Leiter Thomas Berning.
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Als das Trio wieder einsteigen konnte, war der Schwung der Studioaufnahmen und der Premiere vergessen. Eine Reihe von Schulen reagierte dennoch positiv auf das Angebot, das Musical mit Schülern umzusetzen. Die drei Macher stellen den Schulen Texte und Musik unentgeltlich zur Verfügung und unterstützen Lehrer und Schüler. Sie bieten Workshops und Vorträge an. Noten und Texte sind copyrightfrei. In Bad Driburg, in Soest, Bad Sassendorf und in Bad Oeynhausen fanden bereits Aufführungen statt. Weitere „Stationen“ des Musicals sind geplant, unter anderem in Paderborn, in Brakel, in Iserlohn, Ahlen oder Lüdenscheid.

Was in den Schulen während der Proben und bei den Aufführungen geschah, überraschte alle. Die Schülerinnen und Schüler identifizierten sich mit dem Stoff, probten lange und ausdauernd auch an Wochenenden. „Einige von uns waren anfangs sehr skeptisch“, erinnert sich eine Schülerin aus Bad Driburg. Doch spätestens die Proben beseitigten jeden Zweifel. Plötzlich war die ferne Vergangenheit bedrängend aktuell. Jede und jeder hätte so etwas erleben können.

Die Schulen reagierten auch deshalb positiv, weil die Produktion ein Qualitätssiegel trägt. „Die Kinder der toten Stadt“ basiert auf Gesprächen, die Sarah Kass mit etwa zehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen führte. Das Stück ging erst an die Öffentlichkeit, nachdem der Experte Gideon Greif die sachliche Richtigkeit der Inhalte bestätigt hatte. Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland schaute sich das Musical an und fand es gut.

Esther Bejarano war der Meinung, das Musical müsse „in jede Schule in Deutschland“ kommen.
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In jede deutsche Schule!

Trotzdem: Es gibt auch die anderen. Die Online-­Nachrichten mit Schmähungen, Beschimpfungen und Drohungen, die die Organisatorin Sarah Kass erreichen, werden mehr. Die nimmt das hin. Wahrscheinlich ist auch das ein Zeichen für den Erfolg von „Die Kinder der toten Stadt“. Auf jeden Fall machen diese Rückmeldungen deutlich, wie wichtig das Musical ist.

Auch wenn die historische Wahrheit unabdingbar ist, „Die Kinder der toten Stadt“ setzt auf Emotionen. Könnte es sein, dass die Identifizierung der Schauspieler mit den Opfern eine falsch verstandene Erinnerungskultur ist, die es sich zu leicht macht? Wird man den Opfern gerecht? Kann man die Entrechtung, die Angst und die Brutalität im KZ Theresienstadt auch nur ansatzweise angemessen darstellen?

Esther Bejarano war 2018 eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen. Sie starb 2021. „Die Kinder der toten Stadt“ sei wichtig, sagte die Frau, die Auschwitz überlebte. Deshalb müsse das Musical „in jede Schule in Deutschland kommen, um den Menschen etwas entgegenzusetzen, die immer noch nicht verstanden haben, dass man mit anderen Kulturen auch etwas anfangen kann“. www.diekinderdertotenstadt.de

Dr. Sarah Kass realisierte mit Lars Hesse und Thomas Auerswald „Die Kinder der toten Stadt“.
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// Karl-Martin Flüter

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