Wie für jeden Arbeitgeber so gilt in Deutschland auch für die Kirche das weltliche Arbeitsrecht. Den Kirchen ist jedoch aufgrund des verfassungsrechtlich abgesicherten Selbstbestimmungsrechts ein Freiraum eingeräumt.
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Eine moderne Alternative

Angegriffen, aber sehr erfolgreich: Der Sprecher der Dienstgeber der Caritas in Deutschland, Norbert Altmann, verteidigt im Interview das kirchliche Arbeitsrecht, den sogenannten Dritten Weg der Tariffindung.

Interview: Markus Jonas

In der Vergangenheit war es der Klassiker, weswegen das kirchliche Arbeitsrecht in die Kritik geriet, wenn einem Mitarbeiter etwa wegen einer unzulässigen Wiederheirat gekündigt wurde. Inzwischen kann dies wegen einer Änderung dieses Arbeitsrechts durch die Kirche nicht mehr vorkommen. Dennoch: Vor allem die Gewerkschaft Verdi hätte das kirchliche Arbeitsrecht lieber heute als morgen abgeschafft – und findet damit durchaus Gehör in der Politik.

Herr Altmann, Sie sind Sprecher der Dienstgeber der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas in Deutschland, in der die Gehaltstarife und Arbeitsbedingungen für die rund 740 000 Mitarbeiter der Caritas verhandelt werden. Welche Zukunft hat denn das kirchliche Arbeitsrecht noch?

Das kirchliche Arbeitsrecht ist weiterhin verfassungsrechtlich gewährleistet. Glücklicherweise finden in der Politik nach unserer Erfahrung auch die Stimmen Gehör, die das kirchliche Arbeitsrecht mehr fakten- und weniger meinungsbasiert behandeln. Natürlich ist es auch Aufgabe der Kirche, ihr Arbeitsrecht stets zu aktualisieren. Im Bereich des kirchlichen Individualarbeitsrechts ist dies kürzlich mit der neuen Fassung der Grundordnung erfreulicherweise geschehen. Auch der Dritte Weg als Tarifsetzungssystem hat sich bewährt und stellt mit seinem verbindlichen Vermittlungsverfahren als Äquivalent zu Streik und Aussperrung eine moderne Alternative zum Zweiten Weg des nicht kirchlichen Bereichs dar.

Welche Vorteile gegenüber dem Weg der Gewerkschaften gibt es denn?

Gerade im Bereich der Daseinsvorsorge, deren Aufgaben von der Caritas vielerorts übernommen werden, können Arbeitskämpfe durchaus als empfindlicher Einschnitt für die Gesellschaft wahrgenommen werden. Die Mechanismen des Interessenausgleichs des Dritten Weges führen zu attraktiven Arbeitsbedingungen und bieten neben dem transparenten, demokratischen Prozess zwei wesentliche Vorteile: Beide Seiten bleiben konstant im Austausch und tarifliche Regelungen laufen weder aus noch können sie gekündigt werden. 

Also gibt es keinen Verbesserungs­bedarf mehr?

Wie alle Systeme, die zukunftsfähig bleiben wollen, muss sich auch der Dritte Weg stets weiterentwickeln. Im Bereich der Beteiligung von Gewerkschaften könnte dabei Potenzial für die Zukunftsfähigkeit des Dritten Weges liegen. Die Gewerkschaften sprechen sich derzeit trotz strukturell vorgesehener Beteiligungsmöglichkeiten vehement gegen eine Mitwirkung im Dritten Weg aus. Ein kon­struktives Miteinander zu fördern – auch mit den Gewerkschaften – entspricht dem Grundverständnis des Dritten Weges. Es wäre daher zu überlegen, ob nicht eine intensivere Einbindung der Gewerkschaften möglich wäre. Auf Beschlussebene könnte dies gelingen, indem Gewerkschaftslisten eingeführt werden. Gewerkschaftsmitglieder könnten sich so direkt in die Kommission wählen lassen und wären von Beginn an am demokratischen Bildungsprozess der Kommissionen beteiligt.

Sie sitzen bei Verhandlungen als Vertreter der Arbeitgeber mit Vertretern der Arbeitnehmer am gleichen Tisch – in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas in Deutschland. Wie muss man sich diese Verhandlungen vorstellen?

Die Parteien des Dritten Weges stehen – auch unabhängig von konkretem Handlungsbedarf – in regelmäßigem Kontakt. Meldet eine der beiden Seiten Verhandlungsbedarf an, werden in der Regel im Vorfeld der vierteljährlichen Sitzungen der Bundeskommission Termine vereinbart. Beide Seiten bilden Verhandlungsgruppen, die in Präsenz oder per Video zusammenkommen. Dabei erläutern beide Seiten ihre Forderungen oder Positionen zum jeweiligen Thema, entwickeln Alternativvorschläge, zeigen rote Linien auf und machen im Rahmen ihrer Möglichkeiten Zugeständnisse, bis in aller Regel ein Kompromiss gefunden wird. Ist die Kompromissfindung nicht möglich, kann ein Vermittlungsverfahren eingeleitet werden. Dies ist jedoch erfreulicherweise die Ausnahme.

Was verhandeln Sie denn genau, was haben Sie z. B. zuletzt verhandelt?

In den Arbeitsrechtlichen Kommissionen werden die kollektiven Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden der Caritas verhandelt. Konkret geht es also um die Regelungen der Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR), dem Tarifsystem der Caritas. Neben einer Vielzahl kleinerer Themen ging es zuletzt um neue Regelungen für den Rettungsdienst mit einer neuen Zulage und einer erheblichen Arbeitszeitreduzierung sowie um die allgemeine Tarifrunde 2023 mit Entgeltsteigerungen von bis zu 16,5 Prozent. Zudem hat die Caritas im Dezember 2022 als erster Wohlfahrtsverband beschlossen, ihren Mitarbeitenden die Inflationsausgleichsprämie zu zahlen. Die erzielten Tarifabschlüsse bewegen sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten an der Grenze des finanziell Machbaren, sorgen aber für Planungssicherheit und attraktive Arbeitsbedingungen, die die Caritas braucht.

Haben Sie als Vertreter der Arbeitgeber bei Entscheidungen nicht die stärkere Position?

Die Arbeitsrechtliche Kommission entscheidet durch Beschluss. Neue tarifliche Regelungen bedürfen einer Dreiviertelmehrheit. Die Beschlussinhalte werden in der Regel im Vorfeld der Kommissionssitzungen unterei­nander ausgehandelt, sodass ein zwischen den Parteien abgestimmter Beschlussvorschlag zur Abstimmung kommt. Da die Kommissionen auf Bundes- und Regionalebene jeweils paritätisch mit Mitarbeitenden und Dienstgebern besetzt sind, sind beide Seiten gleich stark. Abgesehen davon, dass dies schon nach den Grundsätzen des Dritten Weges nicht das Ziel sein kann, kann schon wegen der erforderlichen Dreiviertelmehrheit keine Seite ihre Wünsche im Alleingang „durchdrücken“. Das passt im Übrigen auch nicht zur heutigen Arbeitsmarktrealität. Gerade in den aktuellen Zeiten haben Dienst- bzw. Arbeitgeber ein großes Interesse daran, attraktive Arbeitsbedingungen anbieten zu können, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu halten und neu zu gewinnen.

Herr Altmann, Sie werden selbst ja auch nach Tarif bezahlt. Müssen Sie als Dienstgeber-­Vertreter da nicht auch mal gegen die eigenen, persönlichen Interessen verhandeln?

Es liegt in der Natur der Sache, dass alle Mitglieder der Kommissionen nicht als Privatpersonen, sondern als Interessenvertreter verhandeln. Was für mich in meiner Einrichtung die beste tarifliche Lösung wäre, muss nicht auch für die Mehrheit der Einrichtungen das Beste sein. Um gute und mehrheitsfähige Kompromisse zu finden, ist es unabdingbar, dass die Beteiligten tatsächlich die Mehrheitsinteressen vertreten und eventuelle Einzelbedürfnisse in der Kommissionsarbeit zurückstellen.

Hintergrund für den Dritten Weg ist ja das christliche Selbstverständnis der Caritas, nach dem man sich auf Augenhöhe begegnet, sich gemeinsam für andere Menschen einsetzt und partnerschaftlich miteinander umgeht. Die Vorstellung ist, dass Arbeitskämpfe mit Aussperrungen und Streiks, der Zweite Weg, ebenso wenig dazu passen wie das einseitige Festlegen von Arbeitsbedingungen durch die Leitung, beim Ersten Weg. Funktioniert dieser Dritte Weg wie gedacht? Geben die Ergebnisse diesem Weg Recht?

Der Dritte Weg hat sich bewährt und führt auch ohne Arbeitskampf zu Abschlüssen, die deutlich im oberen Bereich der Arbeitsbedingungen der jeweiligen Vergleichsgruppen liegen. Dennoch sollte der Dritte Weg stets an gesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden, um bei allen Akteuren akzeptiert zu bleiben. Das System des kirchlichen Arbeitsrechts ist in Bezug auf Tarifbindung, Mitbestimmung und Qualität der Arbeitsergebnisse des Dritten Weges überaus erfolgreich. Unsere Transparenz über interne Reformprozesse, in denen wir eng mit der Mitarbeiterseite zusammenarbeiten, ist und bleibt gewährleistet. Wir streben gemeinsam mit den Beschäftigten der Caritas die Zukunftsfähigkeit unseres Systems an.

In jüngerer Zeit wirbt die Caritas ja angesichts des Fachkräftemangels auch damit, dass sie dank des sogenannten Dritten Weges der Tariffindung höhere Löhne in der Pflege zahlt als private Anbieter. Ist die Bezahlung bei der Caritas etwa in Altenheimen und Krankenhäusern tatsächlich überdurchschnittlich?

Die Verdienste in der Altenpflege liegen in der Entgeltstatistik 2023 über dem Durchschnitt aller Berufe. Das Medianentgelt in der Altenhilfe im Caritas-­Bereich liegt mit der Lohnerhöhung vom 1. März 2024 für Altenpflege-­Fachkräfte und Helfer über dem Median­entgelt Altenhilfe in der Entgeltstatistik 2023. Bei der Caritas ist es egal, ob man im Krankenhaus oder in der Altenhilfe tätig ist, denn bei uns gilt: Gleiches Geld für gleiche Arbeit – auch damit ist die Caritas Vorreiterin. Auch im Wettbewerb um Nachwuchs sind Caritas-­Dienstgeber Vorreiter: Unter den Auszubildenden verschiedener Branchen erhalten nach einer aktuellen Studie Auszubildende in der Pflege im Tarifbereich des Öffentlichen Dienstes die höchste Vergütung – die AVR-­Caritas überbieten diesen Höchstwert sogar noch.

Bei Tarifverträgen ist immer auch eine Frage, wie hoch die Tarifbindung in der jeweiligen Branche ist. Laut Statistischem Bundesamt war das Beschäftigungsverhältnis nur für rund 41 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland durch einen Tarifvertrag geregelt. Wie sieht es denn bei den rund 740 000 Beschäftigten bei der Caritas in Deutschland aus? Die sind ja nicht bei einem großen Arbeitgeber angestellt, sondern bei mehr als 6 000 unterschiedlichen Rechtsträgern der Caritas beschäftigt.

Im Gegensatz zum bundesweiten Trend liegt die Tarifbindung im Bereich der Caritas bei einer nahezu 100-­prozentigen Bindung an die AVR-­Caritas. In der Gesamtwirtschaft ist ein weiterer Rückgang von Tarifbindung und betrieblicher Interessenvertretung zu verzeichnen. Im Bereich der Caritas stellt die Bindung der Rechtsträger an die Grundordnung sicher, dass die im Dritten Weg durch paritätisch besetzte Kommissionen beschlossenen Regelungen der AVR verbindlich zur Anwendung kommen.

Warum macht die Gewerkschaft Verdi dann eigentlich massiv Stimmung gegen diesen Dritten Weg der Tariffindung? Wie sehen Sie das?

Über die Motive von Verdi, ein verfassungsrechtlich abgesichertes und funktionierendes System, das nachweislich für attraktive Arbeitsbedingungen steht, so vehement infrage zu stellen, kann nur spekuliert werden. Letztlich hängt Verdis Bedeutung als Interessenvertretung in der Tarifwelt von ihrer Mitgliederzahl ab. Zwar sind auch Mitarbeitende der Caritas Verdi-­Mitglieder, aber dies ist nur ein sehr kleiner Teil der über eine Million Mitarbeitenden in Tarifsystemen des Dritten Weges. Eine „Abschaffung“ des Dritten Weges würde den Gewerkschaften also ein erhebliches Mitgliederpotenzial eröffnen.

Für viel Ärger hat ja immer wieder die alte Grundordnung des kirchlichen Dienstes gesorgt, die in das private Leben hineinreichte, seit vergangenem Jahr aber in den deutschen Bistümern geändert wurde. Sind Sie froh, dass das geändert wurde? War das ein überfälliger Schritt?

Die Novellierung der Grundordnung ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Es ist zu begrüßen, dass die christliche Prägung einer Einrichtung künftig stärker am Selbstverständnis und nicht mehr in erster Linie an den Mitarbeitenden festgemacht wird. In Zeiten des Fachkräftemangels stellt die Novellierung eine wesentliche Erleichterung dar, da die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche nur noch für einen geringen Teil der Mitarbeitenden eine Beschäftigungs­voraussetzung sein soll. Die Dienstgeberseite der Caritas begrüßt zudem, dass die private Lebensführung der Mitarbeitenden künftig der rechtlichen Bewertung entzogen bleibt. Denn unsere Einrichtungen profitieren und leben gerade von der Vielfalt ihrer Mitarbeitenden. Ob sich die verbleibenden Anforderungen an die Mitarbeitenden in der Praxis bewähren, bleibt abzuwarten.

Gibt es denn heute noch moralische Verfehlungen, wegen denen Mitarbeitern gekündigt werden könnte?

Für das Dienstverhältnis ist die gemeinsame Verantwortung für die glaubhafte Erfüllung des Sendungsauftrages der Einrichtung von entscheidender Bedeutung. Eine positive Grundhaltung zu den Zielen und Werten der katholischen Kirche ist dafür unabdingbar. Das außerdienstliche Verhalten ist in der Regel unbeachtlich und die private Lebensgestaltung wird durch den Dienstgeber nicht bewertet. Moralische Verfehlungen führen grundsätzlich nicht zu einer Kündigung. Ausnahmen hiervon bilden öffentlich wahrnehmbares kirchenfeindliches Verhalten, das die Glaubwürdigkeit der Kirche verletzt, sowie der Austritt aus der katholischen Kirche. Eine Kündigung nach einem Kirchenaustritt kann nur im Einzelfall und nach einer gründlichen Auseinandersetzung mit den persönlichen Gründen für den Kirchenaustritt in Betracht gezogen werden. Öffentliche Handlungen, die die Glaubwürdigkeit der Kirche infrage stellen, sind mit dem öffentlich geschäftsschädigenden Verhalten vergleichbar. Jeder Arbeitgeber, also auch jeder Dienstgeber, kann bei öffentlich wahrnehmbarem, geschäftsschädigendem Verhalten unter Umständen eine Kündigung aussprechen.

Der Dritte Weg setzt ja auf ein einvernehmliches Miteinander statt auf Konflikt. Wenn es funktioniert, könnte diese Grundhaltung dann nicht auch ein Instrument sein, der zunehmenden Spaltung in der Gesellschaft entgegenzuwirken?

Generell würde es der Gesellschaft wahrscheinlich helfen, ihr positives Potenzial zu entfalten, wenn die Menschen miteinander reden, einander zuhören, sich ernst nehmen und sich aus Interesse an einer gemeinsamen Lösung aufeinander zubewegen würden, anstatt zu versuchen, ihre Positionen konfrontativ durchzusetzen.

Sie stammen aus dem Erzbistum Paderborn, ebenso wie der Sprecher der Dienstnehmer der Caritas deutschlandweit, Thomas Rühl, der für dieses Interview leider verhindert war. Wie kam das denn zustande, dass quasi die beiden obersten Verhandlungsführer aus unserem Erzbistum kommen?

Die Dienstgeberseite und die Mitarbeiterseite der Arbeitsrechtlichen Kommission sind in ihren Personalentscheidungen völlig frei und unabhängig. Dass die Sprecher beider Seiten aktuell aus demselben Erzbistum stammen, ist daher tatsächlich rein zufällig.

Nun gehen Sie beide in naher Zukunft in Ruhestand. Ist Ihrer beider Nachfolge schon geklärt?

Die Nachfolgefrage wird derzeit geklärt und Ende September beantwortet werden. Bis dahin müssen wir um Geduld bitten.

Info

Die Dienstgeberseite der Arbeitsrechtlichen Kommission (DGS) ist einer der Sozialpartner der im Dritten Weg für die Gestaltung des kirchlichen Arbeitsvertragsrechts (AVR) zuständigen paritätisch besetzten Kommissionen. Die AVR gelten für die knapp 25 000 Einrichtungen und Dienste mit ca. 740 000 Beschäftigten. Die Dienstgeberseite ist breit aufgestellt und grundsätzlich durch Wahl legitimiert: Sie vertritt die Interessen kleiner, mittlerer und großer Einrichtungen und Dienste aus allen Bereichen der Caritas in allen Fragen des Tarifrechts und der Tarifpolitik im Dritten Weg.

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