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24.10.2024
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Eine Quelle der Hoffnung

In Soest schufen französische Kriegsgefangene einen besonderen Ort des Glaubens und der Zuversicht. Die „Französische Kapelle“ im Dachgeschoss eines Kasernenblocks gilt heute als kunstgeschichtlich einmaliges Zeugnis und ist zugleich ein Symbol der Versöhnung.

Soest

Es wird gebaut: Gerüste, Leitern, Werkzeuge, Maschinen – im Dachgeschoss von Block I der ehemaligen „Colonel-BEM-Adam“-Kaserne in Soest haben derzeit die Handwerker das Sagen. Dachschrägen werden mit Gipsplatten verkleidet, überall wird gebohrt, gehämmert und geschliffen. „Die Arbeiten gehen voran, hier entstehen die Räume für ein Museum zur Stadtgeschichte“, sagt Werner Liedmann und wischt weißen Gipsstaub vom Ärmel seines schwarzen Pullis. Er schiebt einen Eimer und eine Kabeltrommel zur Seite, steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet eine hellgraue Stahltür, die im oberen Drittel ein Kreuz und eine lateinische Inschrift trägt.

Die ehemalige „Colonel-BEM-Adam-Kaserne“ in Soest wurde bis 1994 von den belgischen Truppen genutzt.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Ein kleiner sakraler Raum imDachgeschoss als „Zeitkapsel“

Der Schritt über die Schwelle entführt in eine andere Welt, Staub, Unordnung und Baulärm sind augenblicklich vergessen. Die Atmosphäre in dem kleinen Raum unter der Dachschräge erfasst mit einem Schlag jeden, der hereinkommt. Selbst Liedmann, der ihn als Vorsitzender der „Geschichtswerkstatt Französische Kapelle Soest“ in- und auswendig kennt und den Raum schon unzählige Male betreten hat, ist sichtbar ergriffen: „Es ist immer wieder faszinierend!“, sagt der 71-jährige Soester und weist auf die farbigen Wandbilder. Hinter der Stahltür verbirgt sich ein sakraler Raum mit einer einmaligen Ausstrahlung. An diesem Ort feierten französische Kriegsgefangene zwischen 1940 und 1945 die heilige Messe, hier beteten und beichteten sie.

Auf der Südwand hinter dem Altar ist der auferstandene Christus inmitten von Heiligen in der Gefangenschaft dargestellt. Zu sehen sind auf weiteren Bildern die sieben Werke der Barmherzigkeit sowie die Gottesmutter. Die Wand an der Eingangsseite wird bestimmt von einer großen Frankreichkarte, auf der Wallfahrtsstätten und Orte der Heiligenverehrung zu sehen sind. Die Motive des Gefangenseins und Leidens prägen viele der Darstellungen, die Bilder drücken Heimweh und gleichzeitig Hoffnung aus. Aber die Künstler scheinen selbst in der Trostlosigkeit der Gefangenschaft ihren Humor nicht verloren zu haben, zumindest legt das die Darstellung des hl. Laurentius nahe. Der Märtyrer wurde der Überlieferung nach auf einem eisernen Rost liegend verbrannt. Diese Szene wurde vom Künstler direkt über dem einzigen Heizkörper des Raums platziert. Gerahmt sind die Wandmalereien in den französischen Nationalfarben der Trikolore. „Die Malereien sind von bemerkenswerter künstlerischer Qualität“, urteilte ein Experte.

Das ist kein Wunder, schließlich wurden sie von wirklichen Künstlern ausgeführt: Guillaume Gillet und René Coulon haben den Großteil der Bilder gemalt. Unterstützt wurden sie dabei von André Vuillod, Jacques Chenu und Robert Maire. Gillet und Coulon waren Absolventen der „Akademie der schönen Künste“ in Paris. Dort hatten sie Literatur, Malerei und Architektur studiert. Beide sollten nach dem Krieg Karriere machen und Bekanntheit erlangen. Die Themen für die Gestaltung hatte Hauptmann René Viellard, katholischer Priester ausgewählt. Die drei gehörten zu den Tausenden französischer Offiziere, die im Soester „Oflag VI A“ als Kriegsgefangene lebten.

Eine große Karte Frankreichs mit den Bildern lokaler Heiliger bildet die Ostwand der Kapelle. Die beiden Künstler Guillaume Gillet (r.) und René Coulon (M.) verewigten sich dort in Gebetshaltung mit dem Priester René Vielliard.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Offiziere durften ihre Religion als Kriegsgefangene frei praktizieren

Zeitsprung in das Jahr 1940: Am 10. Mai beginnt der Westfeldzug der Wehrmacht, nach wenigen Wochen ist Frankreich im Juni besiegt, am 22. des Monats wird ein Waffenstillstand vereinbart, der am 25. Juni in Kraft tritt. Auch wenn damit die Kampfhandlungen beendet sind, für viele französische Soldaten bedeutet das den Marsch in Gefangenschaft und Zwangsarbeit. Die Offiziere unter ihnen kommen in gesonderte Lager und genießen gewisse Privilegien. Eines dieser Offizierslager ist das „Oflag VI A“ in Soest. Auf dem Gelände einer eigentlich für die Wehrmacht gebauten Kaserne waren zuvor bereits polnische Kriegsgefangene untergebracht gewesen. Sie machen Platz für die Franzosen, von denen in den kommenden Monaten und Jahren immer mehr nach Soest transportiert werden.

Zu den Offiziersprivilegien gehört es, keine Arbeit leisten zu müssen sowie die freie Religionsausübung. Schnell stellt der Lagerälteste, ein Priester und Oberstleutnant, beim Lagerkommandanten einen entsprechenden Antrag. Daraufhin wird den Gefangenen Anfang 1940 der Raum im Dachgeschoss zur Verfügung gestellt.

Gillet und Coulon beginnen mit der Ausgestaltung. Ihre ebenfalls erhaltenen Skizzen und Entwürfe machen deutlich, wie sorgfältig sie dabei vorgingen und wie ernst sie die Arbeit nahmen. Doch was nützen Ideen und Kreativität, wenn die Farben fehlen? An dieser Stelle kommt ein Soester ins Spiel, der als Gefreiter in der Schreibstube der Kommandantur des Lagers tätig ist und gleichzeitig Küster an St. Patrokli: Bernhard Kröger beschafft die Leimfarben für die Ausmalung und bringt sie gemeinsam mit dem damaligen Messdiener und späteren Bildhauer Alfons Düchting in das Lager. Er sorgt auch dafür, dass die Franzosen die für die Messfeiern nötigen Gegenstände bekommen. Ob er das heimlich oder mit der Genehmigung der Kommandantur tut, lasse sich heute nicht mehr nachvollziehen, lautet die Einschätzung von Barbara Köster in ihrem Buch „Die Französische Kapelle in Soest“.

Die erste heilige Messe wird am 25. Dezember 1940 gefeiert. Von da an wird die Kapelle zum Refugium inmitten von Leid, Trauer und Tod. Denn obwohl die Offiziere gegenüber anderen Gefangenen – insbesondere den Russen, die in einem abgeteilten Bereich des Lagers unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht sind – deutlich besser gestellt sind, ist das Dasein der Kriegsgefangenen hart: Es fehlte quasi an allem – von der Verpflegung über Bekleidung bis hin zu Schlafplätzen.

Das Motiv des Leids prägt viele Darstellungen in der französischen Kapelle.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Direkt neben der Kapelle wird die„Lager-Universität“ gegründet

Hinzu kommt der Mangel an „geistiger Nahrung“: Viele der Offiziere sind hochgebildet, es finden sich Professoren und Wissenschaftler unter ihnen. So verzeichnet das Register schon unter den am 31. Juli 1940 Angekommenen 110 Hochschulprofessoren und 32 katholische Priester. Langeweile und Trostlosigkeit sind ein Problem, die Männer fürchten, intellektuell zu „verkümmern“. Daraufhin entsteht eine Lager-Universität mit Seminaren und Vorlesungen. Gelehrt und gelernt wird ebenfalls im Dachgeschoss von Block I, direkt neben der Kapelle. Die Gefühle der Gefangenen schwanken zwischen Heimweh und Hoffnung. Sie sind zwar eingesperrt, doch ihr Glaube und die Lager-Universität vermitteln ihnen zumindest „ein Gefühl von religiöser und geistiger Freiheit“ (Barbara Köster).

Real befreit wird das Lager am 6. April 1945 durch die Amerikaner. Zuvor hat es allerdings Tote gegeben: Die US-Truppen halten das Oflag für eine SS-Kaserne und beschießen sie, 21 russische Gefangene werden getötet. Eine deutsch-französische Abordnung macht sich mit weißer Fahne auf den Weg zu den Amerikanern und kann sie davon überzeugen, dass es sich bei dem Ziel um ein Kriegsgefangenenlager handelt. Gegen Abend erscheint der erste amerikanische Jeep am Tor. Statt der deutschen Fahne wehen nun die amerikanische und die Tricolore über dem Lager. Tausende Offiziere singen die Marseillaise.

Das Martyrium des hl. Laurentius von Rom: Der Künstler platzierte das Bild des Heiligen im Feuer über dem Heizkörper (M.).
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Selig gesprochener Trappistenmönch versorgte Gefangene medizinisch

In den folgenden Jahren werden nach der Heimkehr der Franzosen Vertriebene aus Schlesien in der Kaserne untergebracht. Auch sie feiern Gottesdienste in dem Sakralraum im Dachgeschoss. Die Soester erfahren im Jahr 1951 erstmals offiziell durch einen Zeitungsbericht von der Existenz der Kapelle. Bis zu ihrem Abzug im Jahr 1994 nutzen dann die Belgier die Kaserne. Sie sind als Besatzer gekommen und verlassen Soest als Freunde. Ein Jahr später wird die gesamte Anlage unter Denkmalschutz gestellt, die Soester erhalten offiziell Zugang zur Kapelle.

1997 gründet sich die „Geschichtswerkstatt Französische Kapelle Soest“. Die Mitglieder wollen nicht nur die Erinnerung wachhalten, sie suchen auch Kontakt zu ehemaligen Gefangenen. Dabei machen die Mitglieder erstaunliche Entdeckungen. Zu den Gefangenen, die im Oflag eingesperrt waren, gehörte auch der Trappistenmönch Frère Luc.

1914 wird er als Paul Dochier geboren. Er studiert Medizin und wird im Zweiten Weltkrieg als Arzt eingesetzt. 1943 lässt er sich als Gefangener gegen einen Vater von vier Kindern im Soester Oflag austauschen. 1941 war er Trappist geworden. Dochier oder „Frère Luc“, so sein Ordensname, versorgt neben seinen französischen Kameraden auch russische Gefangene medizinisch.

Nach dem Krieg tritt er 1946 ins Trappistenkloster Tibhirine in Algerien ein. Dort wirkt er mit kleinen Unterbrechungen bis 1996. In der Nacht vom 26. auf den 27. März wird das Kloster überfallen und sieben Mönche, darunter Frère Luc, werden entführt. Das Kloster im Atlasgebirge, vorher ein Ort der Versöhnung zwischen Christen und Muslimen, war im algerischen Bürgerkrieg zwischen die Fronten von Armee und Rebellen geraten. Ein letztes Lebenszeichen der Entführten ist eine Tonbandaufnahme vom 20. April, die die französische Botschaft am 30. April erhält. Einen Monat später werden die Köpfe der Ermordeten gefunden. Ganz aufgeklärt wird die Tat nie, es gibt bis heute Zweifel daran, dass wirklich islamistische Rebellen die Mörder waren. Die sieben Trappisten werden gemeinsam mit dem Bischof von Oran und elf weiteren Ordensleuten, die in Algerien ermordet worden waren, am 8. Dezember 2018 in Oran als Märtyrer seliggesprochen.

Auch ein Gefangener: Paulus ist an seinen Bewacher gekettet.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Museum zur Stadtgeschichte soll im Frühjahr eröffnet werden

Heute hat die Soester Kasernenanlage zu einem Teil eine neue Nutzung gefunden. Eine Reihe der Gebäude ist bereits saniert und wird beispielsweise als Wohnraum genutzt, einiges wartet noch darauf, wie vernagelte Fenster, abblätternde Farbe und bröckelnder Putz zeigen. Im nächsten Frühjahr soll das Museum, zu dem dann auch die Gedenkstätte Französische Kapelle gehören wird, eingeweiht werden.

Der kleine Sakralraum unter dem Dach wird weiterhin eine authentische „Zeitkapsel“ sein, in erster Linie aber ein Ort, an dem auch in dunkelsten Zeiten Menschen im Glauben Trost und trotz ihrer Gefangenschaft Freiheit fanden.

Text: Andreas Wiedenhaus // Fotos_ Patrick Kleibold

Das Motiv des Leids prägt viele Darstellungen, hier das Bild der eingekerkerten Johanna von Orléans.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Hintergrund

Im Offizierslager „Oflag VI A“ lebten bis zu seiner Auflösung im April 1945 französische Kriegsgefangene, im März des letzten Kriegsjahres waren es rund 5 000. Nach den Genfer Konventionen genossen Offiziere bestimmte Privilegien. So konnten sie nicht nur zur Arbeit gezwungen werden und durften ihren Glauben praktizieren. Einen entsprechenden Antrag stellte der Lagerälteste, der katholische Priester und Oberstleutnant Joseph Collin, schon kurz nach der Ankunft der Gefangenen 1940. Im September des Jahres wurde ihnen ein Dachraum von sechs mal siebeneinhalb Meter zugewiesen. Dort entstand die Kapelle.

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