Einer, der „rübergegangen“ ist
Willi Kraning gehörte zu den Priestern des Erzbistums Paderborn, die als Seelsorger in der DDR wirkten. Jetzt hat der 93-Jährige seine Autobiografie geschrieben.
Paderborn. „Geh doch rüber!“ Diesen Satz bekamen während des Kalten Krieges manchmal diejenigen zu hören, die Kritik an westlicher Politik äußerten und dabei vielleicht sogar noch so etwas wie Sympathie für die DDR anklingen ließen. Willi Kraning ist „rübergegangen“, allerdings nicht aus politischen, sondern ganz anderen Gründen: Er meldete sich gegen Ende seines Theologiestudiums freiwillig zum Dienst in der DDR. 1956 wechselte er nach Magdeburg und wurde dort im selben Jahr zum Priester geweiht. Kraning ist dort geblieben, anfangs war die Grenze zum Westen für ihn geschlossen, als sie wieder offen war, wollte er nicht zurück: „Mein Lebensmittelpunkt ist mit Magdeburg nach wie vor der Osten Deutschlands“, sagt der mittlerweile 93-jährige Geistliche, der gerade seine Autobiografie herausgebracht hat.
Erfahrungen in zwei Diktaturen
Willi Kraning blickt auf ein Leben zurück, das durch Erfahrungen in zwei Diktaturen mitgeprägt ist: Als Siebenjähriger – so schildert er es im Vorwort – geht er am Abend des 9. oder 10. November 1938 mit seinem Vater durch Hagen. Dieser zeigt ihm die Spuren der Verwüstung in jüdischen Geschäften und die Trümmer der Synagoge. Mit wenigen Worten macht er seinem Sohn klar, welches Unrecht geschehen ist. Trotzdem verfällt der Junge der NS-Propaganda und wird begeistertes HJ-Mitglied. Die Karriere dort ist allerdings jäh beendet, als er statt zu einer HJ-Pflichtveranstaltung lieber zum Gottesdienst geht.
Bereits an dieser Episode wird deutlich: Kraning war und ist ein Mensch „mit einem eigenen Kopf“: Das zeigt sich 1948, als er kurz mit dem Gedanken spielt, in die KPD einzutreten, genauso wie bei seinem weiteren Weg, der ihn vom Paderborner Priesterseminar in die DDR führt.
Auch dort war der Seelsorger um ein offenes Wort nie verlegen, das wird bei der Lektüre des Buches an vielen Stellen deutlich: Er hatte keine Angst vor staatlichen Stellen und hat sich hier und da sogar mit der Stasi angelegt. Zum Beispiel, wenn es darum ging, Menschen aus seiner Gemeinde beizustehen, die als „IM“ angeworben werden sollten. Witz und Einfallsreichtum bewiesen seine Gemeindemitglieder und er selbst, wenn sie beim geheimen Bau der Kirche in Ostrau die staatlichen Stellen austricksten. Gleichzeitig macht dieses Beispiel deutlich, dass mit Solidarität einiges zu erreichen war.
Hier wirkte jemand, der ohne Scheuklappen auf seine Umgebung schaute. Im Mittelpunkt standen für ihn die Menschen. Eine Haltung, die schon im Titel des Buches zum Ausdruck kommt: „Christsein heißt, in Querverbindungen zu leben“.
Dabei verharmlost Kraning weder das DDR-Regime noch sieht er sich selbst im Widerstand gegen die Diktatur. Im Gegenteil: „Meiner Meinung nach gehörte der katholische Klerus zu den freiesten Menschen in der DDR“, heißt es auf Seite 109. Sicherlich seien auch manchmal Priester verhaftet worden. Ebenso sei es richtig, dass Geistliche „unter besonderer Beobachtung“ gestanden hätten. Doch es sei äußerst unwahrscheinlich gewesen, „dass einem tatsächlich etwas passierte“. Als Priester habe man zu denen gehört, die am deutlichsten sprechen konnten. Sie seien auf keinen Fall „Märtyrer“ gewesen, auch wenn manche seiner Mitbrüder das nicht wahrhaben wollten, lautet das Urteil des Autors „Unbequem“ zu sein, machte Kraning nichts aus, das galt und gilt auch mit Blick auf seine eigene Kirche. In einigen Passagen hält er sich mit Kritik nicht zurück, wenn es um inhaltliche Fragen geht, bei denen er von der Meinung der „Amtskirche“ abweicht – etwa was die Beteiligung der Laien betrifft.
Vieles lief „unter dem Radar“
Über die Priester, die aus dem Erzbistum Paderborn in das Erzbischöfliche Kommissariat Magdeburg wechselten, um dort als Seelsorger zu wirken, ist nur wenig bekannt. Vieles, was zu DDR-Zeiten zwischen Paderborn und Magdeburg in Sachen Unterstützung geschah, lief „unter dem Radar“, um kein Aufsehen zu erregen und niemandem zu schaden. Umso interessanter ist, wenn sich hier ein Zeitzeuge zu Wort meldet.
Auch mit Blick auf die Wende 1989 lässt Kraning seine Leser teilhaben an Entwicklungen, die in der Rückschau als Glücksfall gelten, jedoch auch hätten ganz anders ausgehen können. Auch macht die Perspektive des direkt Beteiligten den besonderen Reiz aus.
Zupackend ist Kraning als Mensch und Seelsorger gewesen, gemeinsam mit anderen hat er viel auf die Beine gestellt: Bei der „Friedlichen Revolution“ in der DDR sieht er allerdings eine entscheidende weitere Kraft im Spiel. Dass die DDR ohne Blutvergießen untergeht, ist seiner Meinung nach nicht nur den mutigen Menschen zu verdanken: „Hier hatte auch Gott seine Hand im Spiel“, ist der 93-Jährige überzeugt.
Gerade ist wieder viel von einer Entfremdung zwischen West und Ost zu lesen. Das Buch bietet eine Gelegenheit, mehr über die Menschen zu erfahren, die während der Teilung gern als „Brüder und Schwestern“ bezeichnet wurden und heute hier und da wieder als „Ossis“ verunglimpft werden.
Zur Person
Willi Kraning wurde 1931 in Hagen geboren, er studierte Theologie in Paderborn, die Priesterweihe empfing er 1956 in Magdeburg. Nach Kaplansjahren in Zeitz und Ostrau war Kraning von 1966 bis 1980 Leiter der Erwachsenenseelsorge des Erzbischöflichen Kommissaritates Magdeburg. In dieser Zeit baute er die Pfarrgemeinde- und Dekanatsräte auf. 1980 wurde er Pfarrer in Schönebeck. Von dort wechselte Kraning auf eigenen Wunsch 1987 in die Pfarrei Genthin, wo er zehn Jahre als Pfarrer wirkte. 1995 baute er im Auftrag des Bischofs das Referat „Kirche, Wirtschaft, Soziales“ des Bistums auf. Anschließend wurde Kraning Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Magdeburg und Ordinariatsrat, 2001 ging er in den Ruhestand.
Willi Kraning, Christsein heißt, in Querverbindungen zu leben. Ein DDR-Pfarrer erzählt. Verlag: Books on Demand, ISBN: 978-3-7583-7324-4, 204 Seiten, 14 Euro