Es durfte eigentlich nicht geschehen
Vor einem Jahr ging Anatolii Andreiev, Wissenschaftler an der Universität Paderborn, zurück in sein Heimatland Ukraine. Der 34-Jährige trat in das ukrainische Militär ein. Neun Monate später war er tot.
Was das Wort „gefallen“ verschleiert, ist die Brutalität des Krieges. Wochenlang herrschte Ungewissheit, ob Anatolii Andreiev zu den Opfern eines Artillerieeinschlags gehörte. Erst eine Genanalyse brachte Gewissheit. Gestorben ist er zusammen mit drei Kameraden am 9. September bei den Kämpfen im Donbass. Die Bestürzung in Paderborn ist noch immer groß. Seine Verwandten und Kollegen hatten sich vergeblich darum bemüht, ihn von seiner Entscheidung abzubringen. Mirko Schaper, Professor und als Lehrstuhlleiter Chef von Anatolii Andreiev, hatte versucht, seinen Mitarbeiter zu überzeugen. „Wir brauchen dich hier mehr, wir brauchen dich für den Wiederaufbau der Ukraine.“ Vergeblich.
Anatolii Andreiev war als Promotionsstudent nach Deutschland gekommen. 2020 promovierte er mit einer Arbeit, die von der Universität Paderborn als herausragend ausgezeichnet wurde. Mirko Schaper, der eine fast väterliche Beziehung zu Anatolii Andreiev hatte, trauerte auch um den Wissenschaftler: „Er war wirklich, wirklich gut. Das hört sich so abgedroschen an, wenn man das in einer solchen Situation sagt, aber es war wirklich so.“ Auf den Fotos von Anatolii Andreiev ist ein junger Mann zu sehen, oft im Sportdress. Er war ein durchtrainierter Mann, lief, fuhr Rad und schwamm – nicht um seine Leistung mit anderen zu messen, sondern um seinen eigenen Erwartungen gerecht zu werden. Fußball spielte er in einem Freizeitteam, nur zum Spaß. Was ihn im Sport wie in der Arbeit auszeichnete, war seine Ausdauer und die Gründlichkeit, mit der er Herausforderungen anging. Er galt als zuverlässig und hilfsbereit.
Diese Eigenschaften zahlten sich aus, als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel. 48 Stunden später hatte Anatolii Andreiev eine Organisation aufgebaut, die Geld und Hilfsmittel für die Ukraine sammelte, und gründete den Verein „Ukraine Hilfe Paderborn e. V.“. Er war einer der zentralen Ansprechpartner für die Vermittlung von Wohnungen für Flüchtlinge im Kreis Paderborn. Wilfried Meier, der mit Anatolii Andreiev Fußball spielte, hat Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen und dabei seinen Mannschaftskameraden sehr gut kennengelernt: „Anatolii hat sich bemüht, damit alles funktioniert. Unterlagen, Dokumente, das hat er alles gemacht. Und das ging bei ihm sehr schnell. Ich hätte ihn auch nachts anrufen können, wenn ich eine Frage gehabt hätte, davon bin ich überzeugt.“
Viel gesehen und mitbekommen
All das reichte Anatolii Andreiev nicht. „Ich glaube, angefangen hat es im Herbst 2022. Wir sind mit einem Lkw voller Hilfsmittel in die Ukraine gefahren“, erinnert sich Karsten Stasch, der Vorsitzende der Ukrainehilfe. Anatolii Andreiev fuhr nicht sofort zurück, sondern kümmerte sich um die Verteilung der Hilfsgüter. „Das funktionierte vor Ort nicht so gut“, sagt Karsten Stasch. „Damals hat er viel gesehen und mitbekommen. In dieser Zeit muss die Idee entstanden sein, Soldat zu werden.“
„Er wollte das unbedingt machen“, erinnert sich Mirko Schaper. Anatolii Andreiev blieb unbeirrt. Wenn es für einen jungen, sportlichen Mann okay sei, sich zu drücken, dann sei das für jeden in Ordnung. Wie sollte die Ukraine dann verteidigt werden? Die Mutter Tatjana Drozhzha, eine Mathematikerin, hat „mit einem Kugelschreiber auf einem Stück Papier ausgerechnet, dass er in Deutschland viel nützlicher war als als Soldat in der Ukraine. Einfach weil er mit seinem Kopf, seinen Fähigkeiten mehr erreichte als mit einem Sturmgewehr“. Auch ihre Bemühungen blieben vergebens. Anatolii Andreiev wollte immer so handeln, dass er sein Verhalten vor anderen und vor sich selbst rechtfertigen konnte. Und: Er war ein Patriot.
Die Armee machte aus dem begabten Techniker einen Drohnenpiloten. Doch Anatolii Andreiev wollte in der ersten Reihe kämpfen. Er wechselte in die Asow-Brigade, eine Elite-Einheit. „Er wollte nicht mehr zurück in die Drohneneinheit“, berichtet sein Freund Olexandr Grydin. Die Einheit, die ihn aufnahm, verzeichnete nur wenige Todesfälle, ein gutes Zeichen für die Führung der Soldaten und die Versorgung der Verwundeten. „Mit Anatolii sind drei weitere Soldaten gestorben“, sagt Olexandr Grydin. „Das war der größte Verlust seit Beginn des Krieges. Es durfte eigentlich nicht geschehen.“
In Straßenkämpfe verwickelt
Das Risiko schien in den Gräben auf dem flachen Land im Donbass beherrschbar zu sein. Doch dann wurde seine Einheit in Straßenkämpfe verwickelt und die Lage veränderte sich. Sie wurde chaotischer, unüberschaubarer, gefährlicher. In den letzten Telefongesprächen vor seinem Tod hat Anatolii Andreiev angedeutet, wie schwierig die Lage geworden war. Auf die Dauer brauche man Glück, um heil aus diesem Kampf herauszukommen, hat er gesagt. Wenige Tage später fiel er einem Volltreffer zum Opfer.
Die Nachricht war ein Schock. Vielleicht unbewusst hatten seine Freunde Anatolii, dem alles gelang und der alles durchstand, zugetraut, den Krieg überstehen zu können. Er selbst scheint einen schlimmen Ausgang verdrängt zu haben. „Es gab keine Gespräche, was geschehen sollte, wenn er stirbt“, sagt seine Mutter Tatjana Drozhzha, „er hat nicht daran gedacht, dass es so enden könnte.“