Zu den Bildungsangeboten von Avicres in ­Brasilien gehört auch die Musik, es gibt sogar ein ­eigenes Orchester.
Foto / Quelle: Avicres

„Es geht weiter – aber anders!“

Im Erzbistum sind viele Initiativen und Gruppen in der Eine-Welt-Arbeit und Entwicklungszusammenarbeit aktiv. Die meisten wurden schon vor Jahrzehnten gegründet. Aktuell fragen sich viele Mitglieder, wie die Arbeit fortgesetzt werden kann.

Von Andreas Wiedenhaus
Rheda-Wiedenbrück

Der helle Fleck auf den dunklen Klinkern ist noch zu erahnen: An der Wand des Pfarrheims St. Aegidius in Wiedenbrück hing bis vor Kurzem das Logo der „Eine-Welt-­Initiative“ der Gemeinde. Der Laden, in dem es mehr als 30 Jahre fair gehandelte Produkte zu kaufen gab, ist seit einigen Wochen geschlossen. Aktuell wird der eingetragene Verein „liquidiert“, wie es juristisch korrekt heißt.

„Im Oktober 1992 sind wir gestartet“, erinnert sich Karl-­Heinz Simon, der genauso wie seine Frau Kornelia zu den Gründungsmitgliedern zählt und mit ihr und weiteren Mitstreitern im Vorstand des Vereins aktiv war. Der Grund dafür, dass jetzt Schluss ist, liegt in einer ­Tatsache begründet, mit deren Folgen aktuell viele – nicht nur kirchliche Verbände und Initiativen – zu kämpfen haben: Es finden sich kaum noch jüngere Menschen, die sich langfristig in einer festen Struktur engagieren und obendrein noch Vorstandsarbeit übernehmen möchten.

Laden schließt nach über 30 Jahren

Karl-Heinz Simon hatte seinen Rückzug schon länger angekündigt: „Meine Frau und ich wollten noch gern weitermachen, aber nicht mehr als Vorstandsmitglieder.“ Er zählt auf, was in diesem Zusammenhang alles anfällt: „Buchführung, Rechnungsstellung, ­Unterlagen für das Finanzamt, Organisation von Einkauf und ­Verkauf und noch einiges mehr.“ Vielleicht kein Wunder, dass sich vor diesem Hintergrund niemand für die ­Nachfolge gefunden hat: „Wir sind 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die alle gemeinsam alt geworden sind.“ Simon selbst ist 59 Jahre alt, andere aus dem ­Verein sind kurz vor der Rente oder bereits im Ruhestand. „Deshalb haben wir gemeinsam beschlossen, dass jetzt die Zeit für das Ende gekommen ist.“ Die Entscheidung sei nicht leicht gefallen, aber es habe keine Alternative dazu gegeben, fügt er hinzu.

So findet eine ehrenamtliche Initiative ihr Ende, die seit Oktober 1992 eine echte Erfolgsgeschichte geschrieben hat. 400 Mark waren das Startkapital, anfangs fuhr man mit dem Auto nach Iserlohn zu „Mundus“, um dort die Waren einzukaufen. „Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes mit ein paar Regalen im Pfarrheim klein angefangen“, erinnert sich Simon. Daraus wurde im Laufe der Jahre immer mehr. Die Zahl der Produkte wuchs, ebenso wie die Bandbreite des Angebots.

Faire Produkte im Supermarkt

Denn der Anspruch, fair gehandelte Produkte am Markt zu etablieren, wurde gleichzeitig zur Herausforderung für das eigene Engagement: „Mittlerweile gibt es viele der Waren, die man früher nur in Eine-Welt-­Läden bekam, im ganz normalen Handel!“ Wer aufmerksam durch den Supermarkt geht, entdeckt häufig Regale mit fairen Produkten oder Gepa-­Angeboten. Entsprechend mussten Produkte, die man nicht mehr „exklusiv“ hatte, ersetzt oder ergänzt werden. Im Wiedenbrücker Eine-Welt-­Laden wuchs zum Beispiel das Angebot bei Kunstgewerbe und Textilien.

Während es für die Kunden also nicht unbedingt ein Problem ist, dass der Laden nicht mehr existiert, weil sie einen Großteil der Artikel auch bei „normalen“ Anbietern bekommen, hat das Ende in anderer Hinsicht schon Konsequenzen: Denn die Entwicklungszusammenarbeit wurde nicht nur durch den Verkauf fair produzierter und gehandelter Waren unterstützt, die Initiative hat mit dem im Laden erwirtschafteten Gewinn auch viele Projekte direkt gefördert.

Gelder flossen unter anderem nach Bolivien, Brasilien, als Erdbebenhilfe nach Tibet oder in die ­Ukrai­ne. Im Sommer vergangenen Jahres waren Karl-­Heinz Simon und seine Frau Kornelia sowie Tochter Jana Schnitker und Schwiegersohn Fabian Schnitker in Tansania, um Spendengelder und Überschüsse aus dem Laden zu übergeben und sich persönlich ein Bild zu machen. Jana Schnitker hatte neun Jahre zuvor dort in einem Zentrum für Waisen- und Straßenkinder in Arusha nach dem Abitur ehrenamtlich gearbeitet.

Gemeinsam mit dem Leiter dieser Einrichtung, dem Lehrer Samuel „Sam“ E. Morana, ging man auf „Einkaufstour“ für das Zentrum. Unter anderem wurde ein Computer erworben oder Grundnahrungsmittel. Mit Lebensmitteln hatte auch die größte Investition zu tun: Um die Selbstversorgung durch den Anbau von zum Beispiel Mais und Bohnen zu sichern, wurde ein Traktor angeschafft. Allein dafür flossen 5 000 Euro vom Laden-­Konto nach Tansania.

Daumen hoch für das gemeinsame Projekt: Die Schule in Tansania soll auch nach dem Ende der Eine-Welt-Initiative weiter unterstützt werden.
Foto / Quelle: Karl-Heinz Simon

Nicht zuletzt können Initiativen wie die Wiedenbrücker für sich verbuchen, dass bei ihnen wie den meisten kleinen Initiativen keine Kosten für Verwaltung und Werbung anfallen: Was erwirtschaftet bzw. gespendet wird, kommt zu 100 Prozent da an, wofür es gedacht ist. Denn speziell in das Tansania-­Projekt sind neben den Gewinnen aus dem Laden auch einige private Spenden geflossen. Deshalb ist Karl-­Heinz Simon auch optimistisch, dass es mit der Unterstützung weitergehen wird. „Der nächste Termin zum Skypen mit Sam ist schon vereinbart“, freut sich Simon auf das nächste Gespräch mit dem Lehrer in Arusha.

Die Tatsache, dass es nicht „ewig und automatisch“ so weiterläuft, haben auch die Mitglieder der Brasilien-­Initiative Avicres auf dem Schirm. Der Name des Hilfswerkes ist eine portugiesische Abkürzung und bedeutet übersetzt: „Gemeinschaft für das Leben, damit es wachse in Solidarität“. Avicres besteht aus der gleichnamigen brasilianischen Organisation in ­Nova ­Iguaçu im Großraum Rio de Janeiro und der dazugehörenden deutschen Partnerorganisation „Brasilieninitiative Avicres e. V.“ mit Sitz in Paderborn.

Brasilien-Initiative mit zwei Standbeinen

Das gemeinnützige Sozialwerk, das 1991 von dem Paderborner Religionspädagogen Johannes Niggemeier und dem brasilianischen Pfarrer Valdir de Oliveira gegründet wurde, hat es sich zum Ziel gesetzt, die Menschen in Elendsvierteln etwa im Bereich Bildung und Gesundheit zu unterstützen. Eine Aufgabe der ein Jahr später gegründeten deutschen Partnerorganisation ist neben der Öffentlichkeitsarbeit auch die finanzielle Unterstützung der Projekte in Brasilien. Daran, dass es die zahlreichen kleinen Initiativen weiterhin braucht, lässt Konrad J. Haase keinen Zweifel: „Gerade da, wo die großen Hilfswerke nicht hinkommen, ist die Unterstützung durch Gruppen wie Avicres notwendig.“ Haase hat selbst vor seinem Studium ein einjähriges Praktikum bei Avicres in Brasilien absolviert: „Damals war das noch etwas Besonderes, heute sind Auslandsaufenthalte fast schon selbstverständlich.“ Es sei nicht mehr so einfach, Freiwillige für diese Praktika zu finden.

Konrad J. Haase (l.) und Karl-Heinz Herting von der Brasilien-Initiative Avicres blicken trotz sich verändernder Umstände optimistisch in die Zukunft: „Man muss darauf entsprechend reagieren.“
Foto / Quelle: Andreas Wiedenhaus

Karl-­Heinz Herting ist quasi seit der Gründung bei der Brasilien-Initiative aktiv. „Dass junge Menschen sich heute anders entscheiden, ist nicht falsch“, ist er überzeugt. Hinzu komme, wie umworben die junge Generation heute sei – etwa nach Abschluss von Ausbildung und Studium.

Als Vorteil sehen beide die Selbstständigkeit der brasilianischen Avicres: Dort fehle der Nachwuchs nicht, was sich daran zeige, dass es kein Problem sei, Praktikanten aus Brasilien für einen Aufenthalt in Deutschland zu finden. „Avicres ist in Brasilien etabliert und agiert autonom, weil es keine Weisungsbefugnis aus Deutschland gibt“, macht Herting deutlich.

Beide Aktiven der Brasilien-­Initiative sind davon überzeugt, dass es weitergehen wird, „aber anders“: Die zentrale Herausforderung sei in diesem Zusammenhang, das eigene Tun immer wieder kritisch zu betrachten.

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