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29.11.2024
Das lichte Blau des Südchinesischen Meeres: Kalligrafin Ute Meyer-­Koppert schreibt und zeichnet nach der Lebens­geschichte von Nguyet
Foto / Quelle: Karl-Martin Flüter

Es ist mehr in jedem Wort, als es scheint

Die Schreibkunst der mittelalterlichen Mönche hat Bestand bis heute, auch wenn heute eher getippt als geschrieben wird. Das hat eine Kunstaktion im Diözesanmuseum Paderborn gezeigt.

Paderborn
Von Karl-Martin Flüter

1979 hat Nguyet V. drei Tage und vier Nächte nach ihrer Flucht aus dem kommunistischen Vietnam ein rettendes Ufer erreicht, aber sie musste drei Monate im schrecklichsten aller Flüchtlingslager überstehen, bevor sie es nach Europa schaffte. Sie wurde Dolmetscherin und Paderbornerin, eine Stadt, in der sie sich heimisch fühlt. Die Biografie von Nguyet V. ist beispielhaft für ein Jahrhundert voller Kriege, von Flucht und Vertreibung. Wahrscheinlich hat das Diözesanmuseum in Paderborn sie deshalb gebeten, davon zu erzählen – nicht irgendwem, sondern der Paderborner Kalligrafin Ute Meyer-­Koppert, einer von acht Textkünstlerinnen, die Anfang November in einer Kunstaktion im Diözesanmuseum sitzen.

Sie beugen sich über Tische, auf denen Papierbögen liegen, flankiert von Stiften, Pinseln, Farbtöpfchen und Farbpaletten. Acht Lebensgeschichten von Paderbornerinnen, die aus der Fremde kamen, sollen sie mit ihrer Kunst nacherzählen und interpretieren. Es wird ein ruhiger, kontemplativer Abend. Die Zuschauer reden leise, um die Künstler nicht zu stören. Die sind tief versenkt in ihr Tun – immer im „Flow“ der Arbeit. Nur so erklärt sich die unglaubliche Exaktheit, mit der sie arbeiten. Das Diözesanmuseum hatte zu dieser Kunstaktion im Rahmen der aktuellen Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ eingeladen. „Tell me, o Muse …“ – „Sage mir, o Muse …“ – ist der Titel des Abends.

Mit spitzer Feder: Die Künstler arbeiteten mit großer Konzen­tration, wie in einem „Flow“.
Foto / Quelle: Karl-Martin Flüter

Mit diesen Worten beginnt die Odyssee. Auf Homers Helden sind die Veranstalter gekommen, weil eine Darstellung des Odysseus zu den wichtigen Exponaten der aktuellen Ausstellung im Diözesanmuseum zählt. Es handelt sich um eine Wandmalerei im Kloster Corvey. Die Texte des Epos waren in der Antike und im frühen Mittelalter gleich. Die Bedeutung hatte sich jedoch verändert. Odysseus trägt als Fresko im Kloster eindeutig christliche Züge. Die mittelalterlichen Wandmaler und Mönche haben ihn zu ihrem Helden gemacht. So wie Bilder täuschen, so täuschen Zeichen und Texte.

Der Realität unserer Gefühle und Gedanken können sie nicht gerecht werden. Vielleicht gelingt das noch am ehesten in den modernen kalligrafischen Werken, die eher Grafiken und abstrakten Malereien ähneln. In ihnen schwingen Unbewusstes und bewusst Hinzugefügtes, Stimmungen und Gefühle mit – die Existenz des Künstlers ist immer präsent. In Paderborn überführen die Künstler die Migrationsgeschichten, die Erinnerungen an Flucht, Umsiedlung und neue Heimat, mit den Mitteln ihrer Schrift- und Grafikkunst in einen neuen Code.

Unter den wachsamen Augen der römischen Bärin aus der Aachener Kaiserpfalz: Kalligraf Brody Neuenschwander bei der Arbeit.
Foto / Quelle: Karl-Martin Flüter

Die Erinnerungen von Tatjana, die als junges Mädchen aus Kasachstan kam, werden zu einer Handschrift, die wie eine mittelalterliche Urkunde aussieht. Auf dem Blatt von Ute Meyer-­Koppert, entstanden nach der Fluchtgeschichte von Nguyet V., leuchtet das lichte Blau des Südchinesischen Meeres. Die wechselvolle Biografie von Dominique C., die in Frankreich aufwuchs, in Deutschland mit ihrem Mann lebte, auf die Kanaren umzog und nach Paderborn zurückkehrte, wird in den Händen von Eveline Petersen-­Gröger aus Hamburg zu einem Aquarell voll Bezüge auf dieses wechselvolle Leben.

Am späten Abend sitzen die Textlieferanten neben den Kalligrafinnen und Kalligrafen vor den Schrift-­Zeichnungen. Die Unterhaltungen sind lebhaft. Sehen die Künstler mein Leben wie ich selbst? Was erkennen sie? Beseelt wie nach einer langen Meditation, einer tiefen Versenkung verlassen die Besucher das Diözesanmuseum, reich an Eindrücken und neuen Ideen. Wie sagt es Brody Neuenschwander: „Leben ist wie Zuhören, wie Lesen, wie Verstehen.“

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