
„Gefeiert wird ein Unterwerfungsakt“
Professor Dr. Werner Freitag war bis zu seiner Emeritierung 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Westfälische Landesgeschichte an der Universität Münster.
Wie ist Westfalen zu Ihrem Forschungsschwerpunkt geworden?
Die Marienwallfahrt in Telgte war Thema meiner Doktorarbeit, zuvor hatte ich mich bereits als studentische Hilfskraft damit befasst. An der Regionalgeschichte hat mich immer der Kontakt mit der Bevölkerung gereizt, etwa bei Vorträgen. Positives Feedback hat mich dann dazu bewogen, in diesem Bereich wissenschaftlich weiterzuarbeiten. Nach dem Motto der damaligen Landesgeschichte „In Grenzen unbegrenzt forschen“ habe ich mich der Landesgeschichte angenähert. Mein Schwerpunkt war dabei immer die Forschung vor Ort mit dem Anspruch darzustellen, wie sich Entwicklungen in größeren Räumen im Kleinen spiegeln und welche Besonderheiten es gibt.
Was macht Westfalen für einen Historiker so interessant?
Man würde das heute wahrscheinlich mit dem Modebegriff Vielfalt begründen: Es gab kein großes westfälisches Territorium, kein Fürstentum Westfalen – jedenfalls nicht im Zeitraum meines Forschungsschwerpunktes bis 1800. Westfalen war ein Flickenteppich von Territorien, von Städten und Dörfern. Es existierte nicht die eine große Hauptstadt oder das eine große Fürstengeschlecht. Aus dieser Vielfalt folgen Kontraste, die man vergleichen kann – sowohl inner- als auch außerwestfälisch. Was Westfalen in diesem Zusammenhang besonders auszeichnet, ist der Gegensatz zwischen den großen geistlichen Fürstbistümern und den kleineren weltlichen Territorien. Zu den Fürstbistümern, den sogenannten Hochstiften, zählten Paderborn, Münster, Minden bis 1650 und auch Osnabrück, das ebenfalls zum alten Westfalen gehörte, sowie das Herzogtum Westfalen, also das katholische Sauerland. In diesen Territorien war der Fürstbischof gleichzeitig Landesherr. Demgegenüber standen die Grafschaften Ravensberg, Mark, Bentheim, Rietberg, die Herrschaft Rheda und Lippe, das zur Grafschaft und Fürstentum wird. Geistliche und weltliche Territorien nahmen eine unterschiedliche Entwicklung und sind damit spannende Forschungsgegenstände. Hinzu kommt die ausgeprägte Städtelandschaft. Es gab keine Großstadt wie etwa Köln, sondern eine Reihe von mittleren Städten wie Münster und ein dichtes Netz von Klein- und Minderstädten. Auch diese Unterschiedlichkeit ist es wert, untersucht zu werden. Die einzige Reichsstadt auf westfälischem Gebiet war Dortmund, allerdings ohne die Bedeutung anderer Reichsstädte.
Was feiern wir eigentlich aktuell mit dem Jubiläum?
„Westfalen 775“ ist kein normales Jubiläum, sondern die Geschichte einer Niederlage und einer Zwangsmissionierung mit dem Schwert. Gefeiert wird ein Unterwerfungsakt; eigentlich also kein Grund zum festlichen Jubel, denn die ursprüngliche Bewohnerschaft wurde besiegt. Hintergrund war der imperiale Machtanspruch des Frankenreichs; es wollte sich ausdehnen und Ruhe an seiner östlichen Grenze haben. Was wir haben, ist eine Jahreszahl und die Erstnennung von Westfalen als einer Heerschar, die sich gegen Karl den Großen wehrte, der damals nur König und noch nicht Kaiser und damit auch noch nicht „Der Große“ war. Die Folgen waren Gewalt, Zerstörung, Brandschatzung, Massenhinrichtungen.
Für Historiker ist die Quellenlage entscheidend, wie ist die in diesem Fall?
Die fränkischen Quellen strickten an der Christianisierung und dem Heldenmythos von Karl, der aufmüpfige Sachsen – zu denen die Westfalen ja gehörten – disziplinierte. Archäologische Funde – wie sie auch in der Ausstellung in der Paderborner Kaiserpfalz zu sehen sein werden – dagegen zeigen, dass das Christentum schon verbreitet war. Insbesondere die Elite, der sächsische Adel, war zum Teil schon christianisiert. Widukind oder Wittekind war nicht der Anführer aller Sachsen, sondern nur der der nicht christianisierten.
Das Jubiläum fußt auf der Erwähnung einer Heerschar – eigentlich nicht viel, oder?Es kommt darauf an, was man daran andockt. Aus dieser Heerschar wurde die Bezeichnung für eine Region, aus Westsachsen wurde Westfalen. Wobei die Westfalen ursprünglich nur die „Westleute“ waren. Es gab kein Territorium, sondern Erinnerungsmythen, mythische Gründungsgestalten; vielleicht vergleichbar mit einer Art „Mental Map“, bei der es eine Vorstellung von einem Raum gibt.
Ist das so eine Art „westfälisches Trauma“?
An der Frage, was unsere Ursprünge als Westfalen sind, haben sich immer schon die Eliten abgearbeitet: Mythen entstanden, wie der Gegensatz zwischen Wittekind und Karl. Eigenschaften wurden generiert; in diesem Fall Ausdauer und Tapferkeit. Daraus wurden bis heute gültige Stereotype. Wittekind selbst taugte – obwohl er schließlich getauft wurde – auch nicht als katholischer Heiliger. Liborius zum Beispiel war in Form von Reliquien präsent, von Wittekind wissen wir nicht einmal, wo er wirklich begraben ist. Er verschwand aus den Quellen. Es gab schlicht keine strahlenden westfälischen Gründergestalten.
Im Vorwort zu Ihrem Buch „Westfalen – Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und Früher Neuzeit“ ist vom „frommen Westfalen“ die Rede, das Sie wieder in Erinnerung bringen wollen. Spielen Kirche und Religion mit Blick auf Westfalen eine besondere Rolle?
Eine Besonderheit ist die erwähnte Dichte der Fürstbistümer. Das Christentum war also nicht nur als Religion bestimmend, sondern prägte auch die Institutionen, zumindest bis zur Reformation. Hinzu kamen die dichte Klosterlandschaft und – ganz wichtig – die Damenstifte, die von reichen sächsischen Adligen für ihre Töchter gegründet worden waren.
Lässt sich das Bild des „frommen Westfalen“ als Territorium auch auf die Menschen übertragen?
Das halte ich nicht für ein Spezifikum: Intensive Frömmigkeit findet man zum Beispiel auch in Mitteldeutschland, dem Kernland der Reformation. Im Falle Westfalens wurde das Stereotyp vom „frommen Westfalen“ allerdings dazu benutzt, die Gründungsmythen, die mit der Missionierung zusammenhängen, stark zu machen: Mit der Vehemenz, mit der man sich 775 gegen das Christentum gewehrt habe, habe man es nach seiner Übernahme verteidigt. In späterer Zeit, in den 1870er-Jahren während des Kulturkampfes, wurde dieses Bild noch einmal gestärkt. Die Auseinandersetzung zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche war in Westfalen sehr intensiv, beispielhaft für das Erzbistum Paderborn war der Bekennerbischof Konrad Martin. Martin wie auch sein Münsteraner Amtsbruder Johannes Bernhard Brinkmann rekurrierten sehr stark auf die Sachsenzeit, indem sie die ausgeprägte Frömmigkeit von damals auf den Widerstand gegen aktuelle staatliche Eingriffe übertrugen. In der NS-Zeit wurde das noch einmal am Bischof von Galen in Münster deutlich, zum Beispiel, wenn er diese Haltung gegen das „Neuheidentum“ von Rosenberg ins Feld führte.
Es gibt viele Stereotype zu Westfalen, welche Bedeutung haben sie?
Sie haben auf jeden Fall eine lange Lebensdauer. Man braucht sie gewissermaßen als Kommunikationsgrundlage, weil sie identitätsstiftend sind. Für Historiker ist die Frage interessant, auf welche Bedürfnisse mit diesen Stereotypen reagiert wird und wie sie – es handelt sich schließlich anfangs um Eliten-Konstruktionen – in die Breite übergingen. Einen großen Anteil daran hatte die westfälische Heimatbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und damit verbunden Historiker wie Hermann Rothert, der vom „Stammescharakter der Westfalen“ als Erklärungsansatz ausging. Eine Idee, die uns heute fremd ist, aber die Geschichtswissenschaft lange geleitet hat. Letztlich geht es immer um die Grundfrage nach der Herkunft, die alle Menschen bewegt. Die Beschäftigung damit kann man wissenschaftlich oder im Sinne von Mythen betreiben. Das sind keine „Fake News“, sondern Versuche, Antworten zu finden, wenn die Quellenlage dünn ist.
Wie ist aus den Stereotypen die „Marke Westfalen“ geworden?
Vieles davon wie Solidität, Ursprünglichkeit, Qualität und Verlässlichkeit lässt sich einfach gut vermarkten, entsprechend taucht „Westfalen“ als Begriff in vielen Firmennamen auf. Positive Eigenschaften werden auf Produkte übertragen – von westfälischer Braukunst bis zum Fahrzeugbau. Der Begriff ist grundsätzlich positiv konnotiert. Und das nicht nur in konservativem Sinn: Mit Blick auf die „Hidden Champions“ der Region, die zum Beispiel als Familienfirmen am Weltmarkt erfolgreich sind, steht Westfalen auch für Innovation.
Buchtipp
Die über 600 Seiten umfassende landesgeschichtliche Darstellung Freitags zu Westfalen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ist 2023 im Verlag Aschendorff erschienen. Die Schwerpunkte liegen auf der Territorial-, Stadt-, Kirchen- und Religionsgeschichte.