Kultur trifft Glaube
Die Frage nach Polyfunktionalität im Kirchenraum stand unter dem Titel „Kultur trifft Glaube“ im Mittelpunkt der diesjährigen Tagung „Kirche weitergebaut“.
Gestartet wurde mit einem Workshop vor Ort in der spätmittelalterlichen evangelischen Marktkirche St. Viktor, die das Zentrum der historischen Hansestadt Schwerte bildet. In ihrem Inneren birgt sie mit einem mehrflügeligen Antwerpener Schnitzaltar im Chor ein kostbares Kunstwerk, das es zu entdecken galt.
Prof. Dr. Barbara Welzel und Dr. Niklas Gliesmann vom Seminar für Kunst und Kunstwissenschaft der TU Dortmund haben in einem mehrjährigen Projekt und in Zusammenarbeit mit Studierenden, der Gemeinde vor Ort sowie einem internationalen wissenschaftlichen Netzwerk dieses Retabel auf seine Materialien, Ikonografie und Herkunft untersucht und erstaunliche Erkenntnisse daraus gewonnen. Sie konnten dem interessierten Workshop-Publikum direkt am Objekt verdeutlichen, dass der Altar durch Markierungen an bestimmten Stellen die Gütesiegel der berühmten Antwerpener Werkstatt aufweist, und dass beispielsweise die Alabaster-Figuren in der Altar-Predella vom berühmten Rimini-Meister stammen. Dieser ist zeitgleich zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch in Italien und Frankreich nachweisbar.
Neben diesen neuen kunstwissenschaftlichen Ergebnissen wurde im Kirchenraum von St. Viktor auch diskutiert, dass dieses 500 Jahre alte kostbare Altarretabel eben „nicht nur“ ein kulturelles Erbe darstellt, sondern nach wie vor auch als aktueller liturgischer Ort „in Betrieb“ ist und somit die Anwesenheit Gottes zu vergegenwärtigen vermag. Kirchenräume sind somit „doppelt codiert“, so stellte es Prof. Welzel dar: Sie sind einmal „durchbetete Räume“ und gleichzeitig kulturelles Erbe, an dem jeder Mensch das Recht auf Teilhabe hat.
Von liturgischen Kunstobjekten bis hin zu provokanten Interventionen zeitgenössischer Kunst
Beim nachmittäglichen Vortragsteil in der Katholischen Akademie Schwerte wurde dieser Gedanke der Polyfunktionalität wieder aufgegriffen. In einem Dialoggespräch zwischen Dr. Manuela Klauser und Prof. em. Dr. Albert Gerhards – beide gehören der DFG-Forschungsgruppe TRANSARA zu Sakraltransformation in Deutschland, Universität Bonn an – wurden unterschiedliche Konstellationen eines Zusammenspiels von Kunst im Kirchenraum diskutiert: angefangen von liturgischen Kunstobjekten bis hin zu provokanten Interventionen zeitgenössischer Kunst.
Im Anschluss daran stellte Diözesanbaumeisterin Dipl.-Ing. Carmen Matery-Meding die Neugestaltung der salischen Paderborner Dom-Krypta vor, die 2023 fertiggestellt wurde. Hier ist in enger Absprache mit der Denkmalpflege und dem Entwurf des Büros Brückner und Brückner aus Nürnberg die Transformation dieses unklar strukturierten mittelalterlichen Sakralraumes zu einem barrierefreien und hell anmutenden Andachtsraum gelungen.
Verbindung von Alt und Neu
Durch die Platzierung der zeitgenössischen Heiligenfigur des Liborius vom Bildhauer Stephan Balkenhol erhält die über 900 Jahre alte Krypta eine zeitgenössische künstlerische Zäsur, die über die Heiligenverehrung Alt und Neu miteinander zu verbinden vermag.
Die Architektin und Künstlerin Eva von der Stein aus Aachen rundete abschließend den Vortragsteil mit einem Werkstattbericht von aktuellen eigenen Kunst- und Architekturprojekten in und mit Kirchenräumen ab. Ihre Projekte reichen von kleinen temporären Interventionen wie dem Gotteslobaltar in St. Michael in Aachen – ein Altar aus ausrangierten Gotteslob-Gesangsbüchern im Jahr 2014 – bis hin zur Neugestaltung ganzer Sakralräume wie dem Kolumbarium in der Unterkirche von St. Gregorius in Aachen im Jahr 2020.
In der Diskussion am Ende wurde klar, dass die nächsten Jahre zwar im Zeichen einer radikalen Transformation der Sakralbaulandschaft in Deutschland stehen, man aber diesen Wandel nicht allein den Kirchenverwaltungen und -gemeinden überlassen bzw. aufbürden darf. Hier müssen – auch im Sinne der herausgearbeiteten Polyfunktionalität von Kirchenräumen –Erhalt, Umbau und Neunutzung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden.