Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Kunst beginnt für ihn mit einer Frage

Thomas Jessen zählt zu den renommierten deutschen Malern. Im Interview spricht er über seinen künstlerischen Anspruch, Grenzen in der Kunst und das neue Altarbild in Corvey.

Das Interview führten Patrick Kleibold und Christina Frampton

Für die Klosterkirche in Corvey haben Sie ein neues Altarbild gestaltet. Wie gehen Sie an so ein Thema heran?

Oje, das ist eine wirklich komplizierte Frage. Ich schaue mir zuerst den Raum an. In Corvey ist dieser bereits umwerfend, gewaltig und beeindruckend. Es stellt sich die Frage, was soll da noch hin, was kann man noch hinzufügen? Gewünscht war, dass ich mich der Osterthematik annähere. Ich habe mir folgende Frage gestellt: Was ist Ostern für mich? Meine Arbeit beginne ich immer mit einer Frage. Und dann kommen noch weitere Parameter hinzu. Welches Format ist gewünscht und welche Materialien eignen sich am besten.

In ihrer Kunst tauchen oft Realpersonen auf, so auch in Corvey. Was ist der Hintergrund dieser Figur?

Wichtig ist mir immer die Authentizität. Ich habe nach einer Person gesucht, die etwas mit dem Altar zu tun hat. Im Kopf hatte ich das Bild der drei Frauen, die zum Grab gehen und das leere Grab vorfinden. So kam die Idee, eine Frau an das Grab zu stellen. Die Frau, die ich dann gemalt habe, ist eine Person, die in der Kirche arbeitet, die den Altar täglich sieht, die einen konkreten Bezug zum Ort hat. Das ist für mich authentisch.

Wie gehen Sie daran, wenn Sie z. B. einen Heiligen darstellen sollen?

Das ist ein schwieriges Feld. Allein deshalb, weil die meisten Menschen mit Heiligen nur noch sehr wenig anfangen können. Es fängt schon mit den Attributen an, die niemand mehr versteht. Daher versuche ich eine andere Herangehensweise, eine für mich authentischere zu suchen. Bilder oder auch Totenmasken eignen sich hervorragend. Ich versuche, das authentische Bild des Menschen zu übernehmen und ihn so zu zeichnen, wie er aussah.

Was interessiert Sie besonders an der künstlerischen Umsetzung von Personen?

Bei der Umsetzung gehe ich eher einen Umweg. Konkret male ich nicht die Person, denn die Person gibt es nicht mehr. Ich male also ein Foto oder eine Darstellung dieser Person. Wenn ich eine lebende Person male, ist das anders, dann möchte ich diese so malen, wie sie ist und auf mich wirkt. Bei Heiligen geht das nicht. Ich gehe dann eher auf die Suche nach frühen Abbildungen oder auch Fotografien.

Schwingt bei der Umsetzung eine eigene Interpretation dieser Person mit?

Nein, das glaube ich nicht. Für mich wäre es eine Zumutung und Anmaßung, wenn ich eine Person interpretiere, die ich nicht kenne.

Und trotzdem polarisieren Ihre Bilder?

Ja, das ist wohl so. Kunst polarisiert, das habe ich auch schon erlebt. Ein Beispiel ist die Gestaltung des Drolshagener Altars. Ich wurde beschimpft, und am Telefon sagte man mir, ich würde für meine Kunst in die Hölle kommen. Aber ich nehme das den Menschen nicht übel, denn sie reagieren nur so, weil ihre eigene Vorstellung von einem Bild nicht erfüllt wird. Viele wissen nicht mehr, was eigentlich ein Bild ist. Sie sind überfordert und fühlen sich persönlich angegriffen oder verletzt. In einem bestimmten Zusammenhang wird dieses Bild für die Menschen mehr. Es interpretiert ihre ganze Vorstellungskraft. Sie wollen etwas Bestimmtes sehen. Aber ein Künstler, der authentisch und zeitgenössisch ist, der kann das nicht erfüllen.

Was ist Ihr Anspruch an Ihre Kunst?

Besonders wichtig ist mir die Authentizität. Und im besten Fall berührt meine Kunst den Betrachter. Und sollte meine Kunst den Betrachter auch mal ärgern, so ist das auch nicht schlimm. Das ist aber nicht mein Ziel; viel mehr geht es mir letztlich um eine Berührung mit dem Gegenüber. Ein Bild ohne Betrachter geht nicht.

Also bezwecken Sie nicht, konkret etwas auszulösen?

Nein, auf gar keinen Fall. Ich möchte authentisch sein und wiedererkannt werden. Meine Kunst ist nur ein Angebot, um anderen zu begegnen. Das ist für mich das Schöne an der Malerei oder an der Kunst überhaupt: Die Auseinandersetzung mit ihr ist meistens friedlich, auch wenn sich der eine oder andere schon mal aufregt. Doch leider werden immer häufiger Grenzen überschritten. Jemand hat sich mal über meine Kunst aufgeregt und hat dann in einer Kirche ein Kunstwerk beschmiert. So etwas empfinde ich als verletzend. Doch überwiegend gelingt es, dass man sich über die Kunst miteinander austauscht und ausei­nandersetzt, ohne sich an die Gurgel gehen zu wollen. Auch diese Auseinandersetzung hat unsere Gesellschaft und unsere Demokratie nach vorne gebracht.

Und trotzdem löst Kunst in vielen Fällen intensive Streitigkeiten aus?

Leider wird es immer schwieriger, irgendetwas darzustellen. Der Debattenkorridor unserer Gesellschaft wird immer enger. Wir leben in einer Zeit, in der politische Extreme zunehmen, und diese Entwicklung finde ich schon bedenklich. Ich hoffe sehr, dass die Freiheit der Kunst uns noch eine lange Zeit erhalten bleibt.

Gibt es für Sie Grenzen, die Sie nicht überschreiten würden?

Politisch sicherlich. Trotzdem würde ich es grundsätzlich versuchen, ohne aber die Menschen verletzen zu wollen. Wenn ich mir im Vorfeld sicher wäre, dass mein Ansatz für Menschen verletzend ist, dann würde ich einen anderen wählen. Diese Frage stellt sich auch, wenn man ein Osterbild malt. Stellt man Jesus nackt oder bekleidet dar? Wenn man ihn darstellt, wie er geschaffen wurde, dann müsste man ihn im Sinne Michelangelos nackt malen. Doch leider geht das nicht mehr. Wir Menschen sind kleinkariert, da schließe ich mich mit ein. Mit Blick auf das Altarbild in Corvey ging es mir darum, über Ostern nachzudenken und nicht zu polarisieren.

Mit Blick auf diese Arbeit: Es gibt einen Auftraggeber, der Vorstellungen hat, und es gibt den Künstler mit seinen Ideen. Wie kommt man da zusammen?

Diese Frage lässt sich nicht gänzlich beantworten, denn: Wer ist der Auftraggeber? Ist es die Kirche? Ist es die Kirchengemeinde? Ist es die Denkmalpflege, der Raum oder womöglich die Theologie? Ich bin mir nicht sicher. Egal, wen ich frage, ich bekomme jedes Mal eine andere Antwort. Der eine möchte etwas Barockes, der andere etwas Karolingisches, und wieder ein anderer denkt über gewisse Farben und Materialien nach. Am Ende bin ich als Künstler in meiner Einsamkeit allein und kann mich nur auf mich berufen. Oft ist es dann einer gegen alle. Das ist nun mal das Schicksal eines Künstlers.

In welcher Kunstform gehen Sie am meisten auf?

So würde ich das nicht formulieren. Mein Tagesablauf, da gehe ich drin auf. Ich komme in mein Atelier und denke, was habe ich hier für einen tollen Raum? Was habe ich doch für ein Glück, dass ich malen darf? Alles, was mich hier umgibt, hat etwas mit mir zu tun. Wenn ich nicht mehr ins Atelier gehen könnte, das wäre schrecklich. Aber egal, woran ich arbeite, ich gehe immer darin auf. Manchmal kann die Arbeit auch schon mal nerven, aber dann stellt sich immer auch die Freude ein, wenn ein Werk fertig ist und ich durchatmen kann.

Bei Autoren gibt es die sogenannte Schreibblockade. Kennen Sie ein ähnliches Gefühl?

Nein, das hatte ich noch nie. Ich habe eher zu viele Ideen im Kopf. Mir fällt es dann schwer, mich auf eine Idee zu konzentrieren. Wenn ich heute spazieren gehe und die Natur sehe, dann bekomme ich automatisch die Lust, Herbstbilder zu malen. Eine Blockade kenne ich nicht.

Gibt es jemand bestimmten, den Sie gerne mal malen würden?

Nein. Ich male die Menschen, denen ich begegne. Ich nehme die, die kommen. Ich bin immer für den nächsten offen. l

Info

Der Künstler und Maler Thomas Jessen wurde 1958 in Lübbecke in Westfalen geboren. Von 1980 bis 1986 studierte er an der Kunstakademie Düsseldorf. Dort war er Schüler von Gerhard Richter und 1985 Meisterschüler von Alfonso Hüppi. Im selben Jahr hatte er ein Stipendium des Landes NRW an der Cité des Arts in Paris. Jessen lebt und arbeitet in Eslohe. Zuletzt hat er das neue Altarbild für den Hochaltar der früheren Benediktinerabtei Corvey gestaltet.

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