Erinnerungen an 2016: Mohamed Alali (r.), Hans Hermann Fenske (l.) und Mohameds Freund Ahmed
Foto / Quelle: Karl-Martin Flüter

Lügen verlängern Gewalt und Krieg

Wie geht es Syrern, die nach Deutschland flüchteten? Wir sprachen mit Mohamed Alali (25), der als 16-Jähriger allein nach Deutschland kam, und seinem früheren Vormund Hans Hermann Fenske.

Interview: Karl-Martin Flüter

Herr Alali, Ihre Familie lebt in Idlib, der letzten Assad-freien Zone in Syrien. 2023 wurde die Region von einem Erdbeben schwer getroffen.

Mohamed Alali: Ja. Bei dem Erdbeben hatte meine Familie Glück. Niemand ist verletzt worden, aber ein Teil des Hauses ist zerstört. Sie leben jetzt in einem Container.

Haben Sie noch Kontakte mit Idlib?

Mohamed Alali: Ja, vor allem mit meiner Familie. Ich habe viele Menschen verloren. Freunde, mit denen ich gespielt habe, und Verwandte. Sehr, sehr viele sind gestorben. Heute leben dort drei bis vier Millionen Menschen. Idlib ist von allen Seiten eingeschlossen. Die meisten Menschen leben in Zelten in dicht bevölkerten Camps. Idlib ist ein Rebellengebiet. Trotzdem werden die Menschen bombardiert. Jeden Moment kann eine Bombe fallen.

Hans Hermann Fenske: Das sind immer noch russische Flugzeuge, die Bomben abwerfen.

Herr Fenske, Sie sind der Vormund von Mohamed Alali?

Hans Hermann Fenske: Ja, er war der erste. Dann kamen noch drei weitere unbegleitete jugendliche Flüchtlinge dazu, meine Mündel, wie man vor Gericht sagt. Kennengelernt habe ich die Jungs in Sport-­AGs der Hauptschule. Die Vormundschaft geht bis zum 18. Lebensjahr, dann ist damit Schluss. Ich bin ihr Ansprechpartner, aber auch für Formalitäten zuständig, etwa ein Konto bei einer Bank einzurichten. Die Jungen wohnten und wohnen teilweise bei mir. 

Herr Alali, Sie mussten Deutsch lernen und sich in einem fremden Land zurechtfinden. Wie ist Ihnen das gelungen?

Mohamed Alali: Wir haben vom ersten Tag Deutsch gelernt, auch wenn keine Sprachkurse stattfanden.

Hans Hermann Fenske: Das war alles nicht immer leicht. Wie oft haben wir zusammen den Stoff aus der Schule wiederholt. Und wenn die Jungens am Baggersee waren, dann hatten sie ihre Schulsachen dabei.

Mohamed Alali: Ich habe zusammen mit meinem Freund Ahmed das Abitur auf dem Berufskolleg gemacht. Er lernt Pflegefachmann. Ich studiere an der Uni Paderborn Wirtschaftswissenschaften.

Fühlen Sie sich mittlerweile als Brakeler?

Mohamed Alali: Syrien bleibt meine erste Heimat. Aber ich bin dankbar, dass ich so herzlich aufgenommen wurde.

Hätten Sie sich das alles vorstellen können, als Sie 2015 in der Türkei auf die gefährliche Überfahrt nach Griechenland warteten?

Mohamed Alali: Ich habe gehofft, dass ich in Deutschland arbeiten und dann nach Syrien zurückgehen könnte. Aber ich war seit 2015 nicht mehr zu Hause bei meiner Familie.

Warum?

Mohamed Alali: Ich habe einen deutschen Pass und bald auch einen syrischen Reisepass. Trotzdem haben mich die türkischen Grenzbeamten nicht über die Grenze nach Idlib gelassen. Ich musste für den syrischen Reisepass zahlen, den ich nie haben wollte. Das ist absurd. Mit dem Geld, das die syrische Botschaft für den Reisepass einnimmt, werden neue Bomben gekauft, die auf Idlib geworfen werden.

Es gibt eine Initiative in Brakel, die den Menschen in Idlib hilft.

Mohamed Alali: Ich engagiere mich in dem Verein Marah. Zusammen mit Frau Menne, der Vorsitzenden, Herrn Fenske und anderen Vereinsmitgliedern haben wir die Idee entwickelt, in Idlib eine Schule zu gründen. Mittlerweile ist das Projekt der Schwerpunkt der Vereinsarbeit. Die Schule ist zuerst in einem Zelt untergekommen, dann in einem Klassenraum im Haus meiner Familie. Diese erste Schule wurde von 50 Kindern in zwei Klassen besucht, eine für die Mädchen und Jungen im Alter von vier, fünf oder sechs Jahren, die zweite Klasse von sieben bis dreizehn Jahren.

Hans Hermann Fenske: Der Verein bezahlt die Gehälter von zwei Lehrerinnen, aber auch Sachmittel wie Stifte und Hefte.

Seit dem Erdbeben gibt es keinen Unterricht mehr?

Mohamed Alali: In einem Flüchtlingscamp ist in einem Container eine neue Schule entstanden. In einem zweiten Projekt nähen Frauen Kleidung und verkaufen sie. Die Nähmaschinen hat der Verein angeschafft. Das Projekt soll sich künftig selbst tragen.

Gibt es sonst keine Schulen?

Mohamed Alali: Doch, aber es leben einfach sehr viele Kinder in den Flüchtlingscamps. Viele arbeiten schon mit vier oder fünf Jahren. Wir wollen sie von der Straße holen und die Vorkenntnisse vermitteln, die ihnen später einen Schulbesuch erleichtern. Das sind Geschichten, die man sich hier nicht vorstellen kann. (seufzt)

Wie sammeln Sie Spenden?

Mohamed Alali: Unser Verein hat in Brakel und Umgebung bei verschiedenen Anlässen T-Shirts und andere selbst gemachte Artikel verkauft.Hans Hermann Fenske Auch mehrere Privatleute spenden regelmäßig für das Projekt.

Warum machen Sie das?

Mohamed Alali: Die Hilfe ist für mich ein Muss. Ich weiß, wie es in Idlib ist. Die Kinder sollen eine Chance auf Bildung haben.

So wie Ihnen Bildung eine große Chance geboten hat?

Mohamed Alali: Ja. Aber in Idlib ist die Sache noch anders. Es sind viele Menschen gestorben, weil Manipulation und Lügen Gewalt und Krieg verlängern. Die Kinder sollen lernen, dass es mehr gibt als Macht und Manipulation. Dass es nicht gut ist, wenn man nur die eigenen Gesetze befolgt.

Fühlen Sie eine Verantwortung?

Mohamed Alali: Ich will Deutschland zurückgeben, was ich bekommen habe. Ich würde gerne für Firmen im Nahen Osten arbeiten. So kann ich vielleicht etwas für meine Heimat und die Menschen dort erreichen. Die Menschen sollen nicht mehr aus Syrien flüchten müssen, wie ich das musste. Flucht ist schrecklich. Ich will die Probleme dort lösen, wo sie entstanden sind und denen helfen, die nicht so viel Glück wie ich hatten. So wie ich Menschen hatte, die mir geholfen haben.

Info

Das Erzbistum Paderborn hat mit Mitteln aus dem Flüchtlingsfonds die unbegleiteten Jugendlichen in Brakel regelmäßig und über Jahre unterstützt. Spenden für Marah e. V., ­Vereinigte Volksbank eG, IBAN: DE62 4726 4367 6004 0637 00, „Schule in Idlib“Erinnerungen an 2016: Mohamed Alali (r.), Hans Hermann Fenske (l.) und Mohameds Freund Ahmed

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