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16.02.2025
Vikar Oliver Schütte ist seit acht Jahren Priester und seit dem Jahr 2023 Wohnungslosenseelsorger in der Dortmunder Nordstadt.
Foto / Quelle: Wolfgang Maas

Mehr Übergriffe auf Obdachlose

Vikar Oliver Schütte ist seit acht Jahren Priester und seit dem Jahr 2023 Wohnungslosenseelsorger in der Dortmunder Nordstadt.

Interview: Karl-Martin Flüter
Dortmund

Herr Schütte, Sie sind als Priester in Dortmund für obdachlose und wohnungslose Menschen zuständig. Wie kam es dazu?

Ich war nach den ersten Jahren im Dienst als Priester im Erzbistum Paderborn auf der Suche – was kann dein persönlicher Platz sein, wo können deine Begabungen und Talente eingesetzt werden? Ich bin der Überzeugung, dass die Botschaft Jesu allen Menschen gilt. Wenn also die Menschen weniger zu uns in die Kirchen kommen, müssen wir raus – dorthin, wo die Menschen sind – auf die Straßen. Als mir die Stelle des ­Wohnungslosenseelsorgers angeboten wurde, überlegte ich gut, denn das ist schon eine große Herausforderung. Nach guten Gesprächen mit den Verantwortlichen der ­Stadtkirche und Jan Hünicke, dem ­Sozialarbeiter der Caritas in der Dortmunder ­Nordstadt, mit dem ich zusammenarbeiten darf, war für mich klar, dass dies vielleicht ein Ort ist, wohin Gott mich stellen möchte.Dortmund ist eine Großstadt und die Nordstadt ist ein sozialer Brennpunkt.

Wie ist die Situation dort?

Das Thema ist in Dortmund und besonders in der Nordstadt immer größer geworden, weil der Wohnungsmarkt in Dortmund extrem angespannt ist. Der soziale Wohnungsbau ist hier katastrophal. Die Stadtkirche hat auch deshalb entschieden, eine halbe Stelle für Wohnungslosigkeit einzurichten. Es kommen einfach immer mehr Menschen. Verhungern wird in Dortmund niemand, trotzdem ist die Not groß.

Von wie vielen betroffenen Menschen gehen Sie aus?

Die Träger und Einrichtungen, die für Wohnungslose und Obdachlose in Dortmund arbeiten, gehen aus ihrer praktischen Erfahrung von 2 000 bis 5 000 Wohnungslosen in Dortmund aus. Die städtische Statistik verzeichnet aber nur 732 Betroffene. Diese Zahl stimmt einfach nicht! Verschiedene Einrichtungen bieten Erreichbarkeits­adressen für Obdach- und Wohnungslose an, damit die per Post erreicht werden können. Allein das Wichern-Wohnungslosen­zentrum der Diakonie hat mehr als 2 000 Erreichbarkeitsadressen.

Wenn die Stadt Dortmund offiziell von nur 732 Menschen ausgeht, die wohnungslos sind oder auf der Straße leben, sind wahrscheinlich im städtischen Haushalt nicht ausreichend finanzielle Mittel für diese Gruppe vorhanden, oder?

Ohne die vielen Ehrenamtlichen, die Kirchen und Verbände, privaten Initiativen und Vereine wäre die Lage in Dortmund kata­strophal. Das ehrenamtliche Netzwerk in Dortmund ist sehr eng und kompetent. Das ist ein großer Vorteil. Eine der größten Einrichtungen ist „Gast-­Haus statt Bank“, eine ökumenische Wohnungsloseninitiative, in der ich auch aktiv bin. Dort gibt es jeden Morgen von acht bis elf Uhr ein Frühstück, auch an Wochenenden und an Feiertagen. Da gehen auch mal bis zu 400 Frühstücke durch. In diesem Gast-­Haus steht die Würde jedes Menschen, jedes Besuchers, an erster Stelle. Würde des Einzelnen heißt in diesem Fall konkret: Die Besucher können sich ein Frühstück auswählen, Käse, Wurst, Brötchen, Marmelade, Nutella oder Honig, Brot oder Brötchen. Das finde ich fantastisch.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

Die Caritas bringt sich zunehmend mehr ein und hat eine Sozialarbeiterstelle für diese Aufgabe eingerichtet. Ich bin jeden Dienstag morgens im Gast-­Haus und arbeite außerdem am Montag und Donnerstag in der Wohnungslosenhilfe. Die Kirchengemeinden in der Innenstadt bieten sonntags ein Frühstück an. Von der Stadtkirche initiiert hat sich der Verein „Café Wohltun“ gegründet. Das Café ist montags und donnerstags abends geöffnet.

Wo und wie sind Sie außerdem als Wohnungslosenseelsorger tätig?

90 Prozent meiner Arbeit ist klassisches Streetworking. Ich gehe auf die Straße und suche die Menschen dort auf, wo sie leben müssen. Als Priester biete ich auch Gottesdienste im Gast-­Haus und in der St.-Josephs-­Kirche an. Danach gibt es immer etwas zu essen. Das sind sehr launige, manchmal auch sehr laute Gottesdienste. Die Dortmunder Nordstadt gehört zur katholischen Kirchengemeinde Heilige Dreikönige. Dort habe ich mein Büro. Ich bin allerdings nicht der Pfarrei, sondern direkt dem ­Propst unterstellt. Mit der anderen halben Stelle gehöre ich dem Seelsorgeteam im Pastoralen Raum Dortmund-­Nordost an. Mit dem Caritas-­Sozialarbeiter Jan Hünicke, der ebenfalls in der sozialen Arbeit für Wohnungs- und Obdachlose arbeitet, teile ich ein Büro. Jans ganze Stelle wird vom Erzbistum refinanziert, so wie meine halbe Stelle. Ansonsten arbeiten Jan Hünicke und ich rein spendenbasiert. Wir haben kein Budget.

Der angespannte Wohnungsmarkt in Dortmund ist ein Grund für die steigende Zahl Wohnungsloser. Aus welchen anderen Gründen geraten Menschen noch in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit?

Es gibt viele Gründe: Drogensucht, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Trennung, auch psychische Probleme. Eine besonders betroffene Gruppe ist die der vielen osteuropäischen Wohnungslosen, die oft aus Polen stammen, aber auch aus Rumänien oder Bulgarien. Diese Leute sind oft nach Deutschland gekommen, weil ihnen eine Vermittlungsagentur einen Arbeitsplatz angeboten hat. Was dann folgt, entspricht dem klassischen Klischee von sozialer Ausbeutung: Die Menschen arbeiten auf großen Baustellen oder in den großen Fleischereien in Ostwestfalen. Nach vier Wochen am Arbeitsplatz, wenn die Agentur bezahlt werden kann, werden die Leute von den Firmen rausgeworfen.Dann finden sie keinen Job mehr. Wer seinen Job verloren hat, hat meistens nicht lange genug gearbeitet, um von den Sozialkassen aufgenommen zu werden. Einen Arbeitsplatz erhalten sie aber nur, wenn sie auch Papiere haben. Die soziale Scham in dieser Gruppe ist groß, viele melden sich nicht, hinzu kommen Sprachprobleme. Wir versuchen zusammen mit dem polnischen Konsulat in Köln neue Papiere für die Betroffenen in Polen zu beantragen. Für einen polnischen Pass werden jedoch Gebühren von 110 Euro fällig. Das Geld hat niemand. Das bezahlen wir alles von den Spenden, die wir erhalten. Ohne Spenden könnten wir nicht arbeiten.

Ein Thema, das immer mehr in den Fokus rückt, ist die Gewalt gegen Wohnungs- und Obdachlose.

Die Übergriffe auf unsere Klienten nehmen zu, untereinander, aber häufig auch aus der Bevölkerung heraus. Es gibt auch schwere Gewalttätigkeiten. Frauen auf der Straße haben es noch mal sehr viel schwerer. Ich kenne eine Frau, die seit Jahren auf der Straße lebt. Wenn ich sie am Montag treffe und frage, wie das Wochenende war, kommt die Antwort: „Ach, ich bin nur dreimal angepinkelt worden.“

Mit der Würde im Umgang mit Wohnungs- und Obdachlosen ist es nicht weit her …

Nein. Allerdings gilt es, bei der Unterstützung von Menschen in Wohnungs- und Obdachlosigkeit die Würde der Betroffenen zu achten. Jan Hünicke und ich arbeiten grundsätzlich nach dem jesuanischen Motto: Was brauchst du? Wie kann ich dir helfen? Jesus ist nie zu den Menschen gegangen und hat mal schnell per Wunder einen Blinden geheilt. Er hat immer gefragt: „Was brauchst du?“ Zur Würde gehört es, dass die Menschen selbst entscheiden können, was sie brauchen und was sie mit einer Spende machen.

Zur Person

Vikar Oliver Schütte hat schon viele Berufe ausgeübt, er war Mitinhaber einer Diskothek und lebte lange kirchenfern. Heute ist er Priester und kümmert sich um Wohnungs- und Obdachlose in der Dortmunder Nordstadt.

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