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18.08.2024
Elisabeth Brockmann hat im Sommer in Büren zu einem Gedenkveranstaltung eingeladen, sie plant ein Denkmal für gehörlose Menschen.
Foto / Quelle: Karl-Martin Flüter

Mit brutaler Gewalt

Am 8. November 1934 leitete der Amtsarzt in Warburg einen ausgefüllten Vordruck an das Erbgesundheitsgericht in Paderborn weiter. Es handelt sich um einen „Antrag auf Unfruchtbarmachung“ von August Sommer.

Von Karl-Martin Flüter

Zu diesem Zeitpunkt ist August Sommer 14 Jahre alt. Der in Bonenburg bei Warburg geborene Junge lebt 1934 in der „Taub-Stummen-­Anstalt“ im münsterländischen Langenhorst. Ein halbes Jahr später, am 28. Mai 1935, wird er in Paderborn sterilisiert. „Bei dem Eingriff wurde der Samenleiter durchtrennt“ und „3 bis 5 Zentimeter exstirpiert“, schreibt der Direktor des Landeshospitals in Paderborn, Dr. med. Stöcker, der die Exstirpation – die operative Entfernung – vorgenommen hat.

August Sommer war einer von bis zu 400 000 Menschen, die während der nationalsozialistischen Diktatur bis 1945 zwangssterilisiert wurden. Bis zu 5 000 starben an medizinischen Komplikationen. Grund für den schwerwiegenden Eingriff war die – in vielen Fällen nicht gesicherte – Annahme, die meist jungen Betroffenen seien „erbkrank“. Das galt für Menschen, die unter Behinderungen „litten“ wie „angeborenem Schwachsinn“, „erblicher Fallsucht“ (Epilepsie), „schwerer körperlicher Missbildung“ oder, wie August Sommer, „erblicher Taubheit“. Psychische Erkrankungen wie „Schizophrenie“, aber auch „schwerer Alkoholismus“ konnten ebenso zu dem Zwangsurteil „Unfruchtbarmachung“ führen.

Das Thema unterlagüber Jahrzehnte einem Tabu

Aufgedeckt hat das Schicksal von August Sommer die Altenbekenerin Elisabeth Brockmann. Als Kind wurde sie nach einer Masernerkrankung gehörlos und besuchte die Gehörlosenschule in Büren. Während dieser Zeit lebte sie in einer Pflegefamilie. Die engen Kontakte zur Pflegemutter, zu Lehrern und Mitschülern haben ein ganzes Leben lang gehalten. In vielen Gesprächen untereinander wurde eher andeutungsweise über die Sterilisation von Schülern aus Büren gesprochen. Doch das Thema unterlag einem Tabu.

Aber Elisabeth Brockmann ist eine zielstrebige Person, die solche Widerstände eher motivieren als abschrecken. Sie begann zu fragen. 2016 erschien ihr Buch „‚­Euthanasie‘ und Zwangssterilisation zwischen 1933 und 1945“. Dort berichten neun Zeitzeugen und Opfer von der Zwangssterilisation, unter ihnen auch August Sommer. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Es sollte der „Rassenhygiene“ dienen. Indem Menschen, die als erbkrank galten, sterilisiert wurden, wurde die „Volksgesundheit“ gestärkt. Davon waren die Nationalsozialisten überzeugt.

Das Gesetz garantierte ein scheinbar objektives juristisches Verfahren, das sich in der Realität jedoch als Farce entpuppte. August Sommer war wegen einer Erkrankung in den ersten Lebensjahren gehörlos. Das gab sein Onkel und Vormund bei einer Anhörung im Februar 1935 zu Protokoll. Offenbar versuchte die Familie bei diesem Termin die drohende Maßnahme noch abzuwenden. Der Einspruch war vergeblich. An das, was folgte, erinnerte sich August Sommer 65 Jahre später in einem Gespräch mit Elisabeth Brockmann. „Ich war 15 Jahre alt, als plötzlich die Polizei ins Haus kam, ich musste sofort mitkommen. Meine Mutter wollte mich schützen, doch gegen diese Polizei­beamten konnte sie nichts ausrichten. Man brachte mich ins Krankenhaus, dort wurde ich mit brutaler Gewalt zwangssterilisiert.“

Das Trauma sorgte für Depressionen und Einsamkeit

Demütigung und Schmerz blieben ein Leben lang. Viele Betroffene litten unter Depressionen, oft blieben sie im Alter allein, weil keine Kinder da waren. Das Trauma setzte sich fort, weil das Unrechtsgesetz in den ersten Jahren der Bundesrepublik nicht für ungesetzlich erklärt, sondern nur außer Kraft gesetzt wurde. 1961 wurden die Entschädigungsforderungen von Zwangssterilisierten nach einer Expertenanhörung vom Wiedergutmachungs­ausschuss des Bundestages abgelehnt. Von den sieben eingeladenen Gutachtern waren drei NS-­Täter: Eugeniker und „Rassenhygieniker“.

Erst im Jahr 1988 ächtete der Bundestag die Zwangssterilisierungen, 1998 hob es die Urteile der Erbgesundheitsgerichte auf. Bis heute sind die Opfer nicht als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Elisabeth Brockmann hat in ihrer Wohnung in Altenbeken waschkörbeweise Akten gesammelt. Sie will weiter forschen. Das Schicksal von Menschen mit Behinderung während des „Dritten Reiches“ braucht Menschen wie sie, damit die Erinnerung an die Opfer erhalten bleibt. Schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten war die Meinung weit verbreitet, Menschen mit einer Behinderung seien „Ballastexistenzen“. Diese Überzeugung ist nie ganz verschwunden.

In den 1990er-­Jahren teilte Peter Singer mit seiner „rationalen Ethik“ das Leben in die Kategorien lebenswert oder lebensunwert auf. Das wirkt bis heute nach, etwa in der Debatte um pränatale Diagnostik. Das Leben von Elisabeth Brockmann ist dagegen ein Zeugnis für den Wert jedes einzelnen Lebens, wie es der christliche Glaube und das Grundgesetz garantieren: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

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