
Syriens Kampf um Zukunft
Vortrag und Diskussion mit Dr. Kamal Sido in Detmold.
Erst litten sie unter dem Assad-Regime, nun blicken sie sorgenvoll auf die Zukunft unter den neuen Machthabern – ob Schiiten, Alawiten, Christen, Kurden oder andere. Der Vielvölkerstaat Syrien beheimatet neben der arabisch-sunnitischen Bevölkerungsmehrheit viele verschiedene Volksgruppen und religiöse Minderheiten, die 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ihre unterschiedlichen Traditionen prägen das Land seit Jahrhunderten. Auf Einladung der Lippischen Landeskirche und der Buchhandlung Kafka & Co. hat Dr. Kamal Sido, Nahostexperte der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ (GfbV), „Syriens Kampf um Zukunft“ in den Blick genommen. Albert Lange (Kafka & Co.) konnte rund 90 Gäste im Kleinen Festsaal der Stadthalle begrüßen.
Viele Syrer sind voller Freude über das Ende der 50-jährigen Assad-Diktatur. „Die Entwicklung in Syrien ist jedoch instabil, weil islamistische Gruppen eine zentrale Rolle spielen“, informierte Dr. Sido. Anführer der erfolgreichen Befreiung ist der 42-jährige Abu Mohammed al-Dscholani (Ahmad al Scharaa), der zum provisorischen „Staatspräsidenten“ ernannt wurde. Die Herkunft aus ursprünglich terroristisch-islamistischen Milieus und die unklaren politischen Absichten der neuen Machthaber besorgen Angehörige ethnischer, religiöser und weltanschaulicher Minderheiten im Land.

Dr. Kamal Sido, geboren 1961 in Afrin im kurdischen Teil Syriens, gehört selbst einer bedrohten Minderheit an und ist deutsch-kurdischer Menschenrechtsaktivist. Seit 2006 ist er Referent für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten und Nationalitäten der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen, deren Devise ist: „Jede Regierung ist daran zu messen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht“. Dr. Kamal Sido: „Selbstverständlich begrüße ich die Abschaffung der brutalen Assad-Diktatur, vor der ich zehn Jahre auf der Flucht war. Mein Fokus liegt jedoch auf der Situation der Minderheiten und Frauen, für die sich immer noch nicht viel geändert hat.“
Für Kurden gehe der Krieg weiter. Die Türkei greife die kurdisch kontrollierten Gebiete in Syrien auch nach Assads Sturz weiter an. „Die Drusen im Süden und die Kurden im Norden müssen gestärkt werden, um ein Gegengewicht zu den Islamisten zu bilden“, forderte Dr. Sido. Da viele Drusen in der israelischen Armee seien, schütze Israel sie. Die Islamisten würden daher einen großen Bogen um Drusen-Dörfer machen. Rund zwei Millionen Alawiten leben in Syrien, deren Verfolgung ebenfalls aufhören müsse. Nach Kurden und Christen seien sie stark gefährdet, weil ihnen zulasten gelegt wird, dass Assad Alawit ist. Syrien war einmal die Wiege des Christentums, heute seien Christen eine verfolgte Minderheit.
„Deutschland hat die Islamisten in Syrien seit 2011 aus geopolitischen Gründen unterstützt. Ein Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag dazu wurde abgelehnt“, kritisiert Dr. Sido. Es dürfe nicht dazu kommen, dass Islamisten in Syrien die Religion missbrauchen, um die Gesellschaft zwangsweise zu islamisieren. „Stattdessen braucht es mehr Bildung und Frauenrechte“, ist sich Dr. Sido sicher, der anschließend mit dem Publikum ins Gespräch kam.