Teilhabe schaffen, aber nicht zur Schau stellen
Die Josefs-Brauerei in Bad Lippspringe ist die erste behindertengerechte Firma zur Getränkeherstellung in Europa. Inklusion wird hier großgeschrieben.
Von außen sieht die Produktionsstätte der Josefs-Brauerei in Bad Lippspringe aus wie jede andere Brauerei auch. Genauso ist es, wenn man im Lager an den Türmen von Kisten mit frisch abgefüllten Getränken vorbeikommt. Und genauso ist es auch, wenn man die Produktionshalle betritt, in der elf Mitarbeiter damit beschäftigt sind, Flaschen zu reinigen, die Getränke abzufüllen und für den Versand vorzubereiten. Das sieben der elf Mitarbeiter in der Produktion eine Behinderung haben, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Alles läuft so reibungslos, wie man es eben von einem produzierenden Unternehmen der Getränkebranche erwartet. Flaschen rauschen auf den Förderbändern vorbei, werden von den Mitarbeitern kontrolliert, dann abgefüllt, wieder kontrolliert, kommissioniert und schließlich versandt. Jeder weiß hier genau, was er zu tun hat.
Jeder Mensch hat seine Stärken
„Die Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung ist fester Bestandteil unserer Unternehmensphilosophie. Wie alle anderen Getränkeproduzenten auch, ist es unser Ziel, ein qualitativ hochwertiges Produkt zu erstellen, und dass eben, indem wir Menschen mit einer Behinderung eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt geben. Jeder Mensch hat seine Stärken, auch Menschen mit Einschränkungen. Man muss nur genau hinschauen, wen man mit seinen jeweiligen Fähigkeiten in welchem Bereich einsetzt“, sagt Vertriebsleiter Rico Lucius. Wichtig bei der täglichen Arbeit sei das Team. Dieses müsse gut zusammengestellt werden und harmonisch miteinander umgehen, ist sich der erfahrene Vertriebler mit Stationen bei Kulmbacher, Krombacher und MBG sicher.
Einen Unterschied zur Normalwirtschaft sieht Lucius dabei nicht: „Auch dort werden Mitarbeiter entsprechend ihrer Fähigkeiten eingesetzt. Im Fußball ist es genauso. Man schaut sich die Stärken genau an und dementsprechend stellt man auf, einer wird Torwart, ein anderer Abwehrspieler und andere wiederum Stürmer. Unsere Brauerei ist kein Unternehmen, in dem Menschen mit einer Behinderung etwas herstellen, wir sind vielmehr ein sozial engagiertes Unternehmen, das tolle Produkte produziert, und das machen wir eben mit Menschen mit und ohne Behinderung“, sagt Lucius.
Die Worte Lucius’ spiegeln sich auch im Motto der Brauerei „Gutes trinken, Gutes tun“ wider. Dieses ziert nicht nur die Rückseite der Getränkeflaschen, sondern verweist zugleich auf die Tradition der Brauerei, die bis vor drei Jahren im Eigentum der Josefs-Gesellschaft und des Josefsheimes in Bigge-Olsberg war. Gegründet wurde die Josefs-Gesellschaft am 15. August 1904 von dem katholischen Geistlichen Heinrich Sommer (1872–1918), der auch als ein Pionier der Behindertenarbeit gilt. Sein Ziel war die „Heilung, Pflege und die gewerbliche Ausbildung verkrüppelter Personen“. Schon bald darauf entstanden weitere Einrichtungen der Kranken- und Behindertenhilfe unter dem Dach der Josefs-Gesellschaft. Im Jahr 2000 kam dann die Josefs-Brauerei hinzu.
Zukunft stand auf der Kippe
Doch bevor die Inklusionsbrauerei vor drei Jahren nach Bad Lippspringe umgezogen ist, stand die Zukunft des Betriebes lange Zeit auf der Kippe. Insbesondere die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie hatten die Brauerei in eine wirtschaftliche Schieflage gebracht. Ralf Eckel, einer der sechs Gesellschafter und selbst Vater eines behinderten Sohnes, hörte durch Zufall von der möglichen Schließung – und sah Handlungsbedarf. Es gelang ihm, weitere regional ansässige Investoren zu finden, und so konnte die Josefs-Brauerei vor der Schließung bewahrt werden. Für die Investoren stand von Anfang an fest, dass sie die Brauerei in der Form eines Inklusionsbetriebes zu 100 Prozent erhalten wollen.
Auch wenn die Brauerei optisch so aussieht und produziert wie jede andere Brauerei auch, so ist es gerade der soziale Aspekt, der dann doch einen Unterschied ausmacht. „Natürlich ist es unser Anspruch, die Brauerei in die schwarzen Zahlen zu führen, doch wir arbeiten hier nicht ausschließlich gewinnorientiert“, sagt Lucius. Ziel sei es vielmehr, Arbeitsplätze für Menschen mit einer Behinderung zu schaffen. Während in anderen Brauereien Automatisierungsmaßnahmen dazu führen, dass Arbeitsplätze eingespart werden, so werden bei der Josefs-Brauerei gerade in den Bereichen der Abfüllung und beim Kommissionieren sowie beim Aufbereiten des Leergutes Arbeitsplätze geschaffen.
Dieser soziale Ansatz führt aber auch dazu, dass Arbeitsprozesse innerhalb der Produktion immer wieder überdacht und angepasst werden müssen. Einer der Mitarbeiter, der davon profitiert, ist Nico. Er hat eine kognitive Lernschwäche. Sein Wunsch war es immer, zu kommissionieren. Da er jedoch nicht lesen kann, hat sich dieser Wunsch lange Zeit nicht erfüllt. Dass er jetzt seinen Traumberuf ausüben kann, liegt daran, dass Arbeitsabläufe und Prozesse zielgerichtet auf ihn angepasst wurden. Darin involviert war die Inklusionsbeauftragte der Brauerei, Victoria Schulte-Broer: „Wichtig in unserer täglichen Arbeit ist es, dass wir immer einen Schritt weiterdenken. Wir haben beispielsweise unsere Lieferscheine überarbeitet und arbeiten nun mehr mit Bildern und Farbskalen. Dies ermöglicht es Nico, die Bilder abzugleichen und erleichtert ihm seine Arbeit, wodurch sich seine Fehlerquote immer mehr der Null-Prozent-Marke annähert.“
Jeder Zehnte ist schwerbehindert
Wie wichtig der Ansatz des katholischen Geistlichen Heinrich Sommer auch heute noch ist, zeigt eine Statistik des Statistischen Bundesamtes. Jeder zehnte Einwohner ist schwerbehindert. Der Anteil der Menschen mit Behinderung an der gesamten Bevölkerung liegt somit bei 9,4 Prozent. Dass Menschen mit einer Behinderung trotz ihrer Einschränkungen wertvolle Mitarbeiter für ein Unternehmen sein können, sagt Rico Lucius: „Gerade bei Nico erkennen wir, wie viel Freude ihm die Arbeit macht. Er macht einen klasse Job und ist sehr gerne hier. Wir müssen ihn regelrecht in den Urlaub schicken, da er hier im Team auch ein Stück Familie gefunden hat und am liebsten rund um die Uhr arbeiten würde.“ Doch das sei manchmal gar nicht so einfach zu vermitteln. Als Nico zum ersten Mal Urlaub nehmen sollte, stellte er die Frage, was er denn falsch gemacht habe, er käme schließlich so gerne zur Arbeit.
Teilhabe für Menschen mit einer Behinderung zu schaffen, sei gar nicht mal so schwer. Wichtig sei, dass man sich Zeit nehme, mal einen Moment stehen bleibe, zuhöre und Aufmerksamkeit schenke. Und so lasse sich dann auch ein Mehrwert auf ganzer Linie für das Unternehmen schaffen. Lucius sagt aber auch, dass nicht jeder Mensch mit einer Behinderung geeignet sei, die Aufgaben in der Brauerei zu erledigen. „Wir möchten, dass jeder unserer Mitarbeiter bei uns aufblüht. Das klappt nicht immer, aber wir versuchen es zumindest.“
„Es ist schade, dass unsere Gesellschaft Menschen mit einer Behinderung oftmals weniger zutraut, als sie tatsächlich leisten können. Wir machen hier völlig andere Erfahrungen. Unsere Kollegen sind hochmotiviert und engagiert. Zu unserer Philosophie gehört es, dass jeder respektiert und gleichbehandelt wird“, sagt Schulte-Broer.
Und wenn dann mal einer der Mitarbeiter eine neue Wohnung braucht und umziehen muss, dann kümmert sich Schulte-Broer auch darum: „Für uns ist es selbstverständlich, dass wir auch an diesen Stellen unterstützen. Nicht nur der allgemeine Arbeitsmarkt ist leergefegt, es ist auch nicht einfach, Mitarbeiter mit einer Einschränkung zu finden. Daher wollen wir ihnen den Einstieg bei uns so einfach wie möglich machen.“ Damit dies bestmöglich gelingt, kooperiert die Brauerei unter anderem mit den Schlosswerkstätten des CWW und einer Behindertenwerkstatt in Bad Driburg.
„Wir wollen Teilhabe schaffen“
Und auch wenn die Brauerei nicht mehr in Bigge-Olsberg, sondern jetzt in Bad Lippspringe heimisch ist und damit nicht mehr einer katholischen Trägerschaft angehört, so hat sich an dem ursprünglichen Inklusionsgedanken doch nichts verändert. „Wir wollen Teilhabe für Menschen mit einer Behinderung schaffen, das ist unser primäres Ziel. Doch es gibt noch einen ganz wichtigen weiteren Aspekt: Wir wollen Teilhabe schaffen, aber unsere Mitarbeiter nicht zur Schau stellen. Dafür braucht es Fingerspitzengefühl im Miteinander und auch in der Außendarstellung, schließlich sind wir kein Zirkus“, sagt Lucius.
Noch schreibt die Brauerei zwar rote Zahlen, doch ein klares Unternehmensziel wurde von Lucius bereits ausgerufen. „Wir wollen die Brauerei in die schwarzen Zahlen bringen. Mein Anspruch: Die Aufwendungen der Brauerei soll die Brauerei auch selbst aufbringen können – das schafft nicht nur Selbstbewusstsein, sondern auch Selbstwertgefühl.“ Wozu die Gewinne eines Tages genutzt werden sollen, stehe bereits fest: Es sollen weitere Arbeitsplätze für Menschen mit einer Behinderung geschaffen werden, ganz im Sinne des katholischen Geistlichen Heinrich Sommer.
Text und Fotos: Patrick Kleibold
Hintergrund
Heinrich Sommer (1872–1918) war ein deutscher römisch-katholischer Geistlicher und Pionier der Behindertenarbeit. 1899 wurde er zum Priester im Erzbistum geweiht. Auf dem Katholikentag des Jahres 1903 wurde er angeregt, in seiner Heimat etwas für die „Krüppelfürsorge“ zu tun. Sein Ziel war die „Heilung, Pflege und gewerbliche Ausbildung verkrüppelter Personen“. Er erwarb ein Grundstück in Bigge-Olsberg und gründete 1904 die Josefs-Gesellschaft und das Josefsheim. Pfarrer Heinrich Sommer war es vor allem wichtig, Behinderte adäquat pflegen zu lassen und für ihre berufliche Bildung zu sorgen. Bald nach dem Josefsheim entstanden weitere Einrichtungen der Kranken- und Behindertenhilfe unter dem Dach der Josefs-Gesellschaft.