Gutes tun macht Freude: Das beweisen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Dortmunder Bahnhofsmission.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Wenn das Leben entgleist

Manchmal ist es nur eine Auskunft, in anderen Fällen sind die Sorgen größer: Die Dortmunder Bahnhofsmission ist Anlaufstelle für Menschen in Not. 

Dortmund

Den beiden Männern fällt ein Stein vom Herzen – das sieht man ihnen an. Sie bedanken sich gestenreich und mit den wenigen Worten Deutsch, die sie beherrschen. Ihre Weiterfahrt nach Aachen ist geregelt, die Dortmunder Bahnhofsmission hat nach einigem Hin und Her und vielen Telefonaten alles in die Wege geleitet. Die polnischen Arbeitsmigranten waren ohne Geld am Hauptbahnhof gestrandet. Nach Dortmund waren sie gekommen, weil ihnen hier eine Arbeitsstelle zugesagt worden war. Doch das Versprechen entpuppte sich als „Fehlanzeige“. Aber in Aachen soll es klappen.

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In Dortmund gestrandet

Jetzt warten die beiden Männer im Gastraum und trinken eine Tasse Kaffee. Auch Swetlana Berg ist erleichtert. Mehr als 23 Jahre arbeitet sie hauptamtlich bei der Dortmunder Bahnhofsmission, seit 2007 ist sie die Leiterin. In dieser Zeit hat Swetlana Berg viele Geschichten gehört. Manche waren erschütternd, in vielen Fällen konnte die Bahnhofsmission helfen. Und mit der Tatsache, dass manche „Story“, die in diesen Räumen erzählt wurde, vielleicht nicht der Wahrheit entsprach, kann sie leben: Sicherlich sei sie schon einmal getäuscht worden, meint die 59-Jährige und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Von solchen Erfahrungen darf man sich nicht enttäuschen lassen!“

„Was passiert, wenn wir nicht helfen?“ Das ist für die Leiterin und das Team der Bahnhofsmission die entscheidende Frage; auch im Fall der beiden Arbeitsmigranten. Wer letztlich die Fahrkarten nach Aachen bezahlt, wird noch zu klären sein. Eigene finanzielle Ressourcen für solche Fälle hat die Bahnhofsmission nicht. „Aber es gibt Quellen, die man in solchen Notfällen anzapfen kann.“

Mit den beiden Polen sitzen an diesem Vormittag noch zwei weitere Männer und eine junge Frau im Aufenthaltsraum. „Bisher war heute noch nicht allzu viel los“, meint Swetlana Berg. Die Sonne scheint, und es ist für die Jahreszeit ziemlich warm. Man kann es gut draußen aushalten. Auf dem Bahnhofsvorplatz herrscht reichlich Betrieb. Der Bahnhof ist Anlaufpunkt für viele Menschen. Für Reisende ist er Start oder Ziel, für andere ein Ersatz für ein Zuhause. Neben Obdachlosen treffen sich auch viele hier, um gemeinsam den Tag zu verbringen. Alkohol und Drogen sind rund um den Bahnhof ein großes Problem.

Swetlana Berg leitet die Dortmunder Bahnhofsmission seit 2007.
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Getränke und Gespräche

Zwar war es heute bisher ruhig, doch die Kaffee­maschine läuft schon den ganzen Morgen. Denn etwas zu trinken gibt es für jeden Gast – Kaffee, Tee oder Wasser. Wobei das Jahres­budget 2024 für Kaffee bereits erschöpft ist. „Wir verbrauchen rund 1,5 Kilo am Tag, das ist ein echter Geldfresser“, sagt die Leiterin. Auch wenn die Bahnhofsmission keine „Regelverpflegungsstelle“ ist und Bedürftige woanders etwas zu essen bekommen, lassen sich oft auch ein belegtes Brötchen oder ein anderer Snack „herbeizaubern“. „Zum Beispiel ein Backshop im Bahnhof reicht kostenlos das an uns weiter, was am Vortag nicht verkauft worden ist“, erklärt Swetlana Berg. Manchmal gibt es reichlich Reste, an anderen Tagen ist das Angebot eher spärlich.

„Wir bekommen viel Unterstützung“, freut sich die Leiterin der Bahnhofsmission: „Wenn es da­rauf ankommt, helfen die Menschen!“ So wie im Frühjahr 2022, als die Dortmunder Bahnhofsmission vor einer riesigen Herausforderung stand: Ende Februar hatte Russland die Ukrai­ne überfallen, unzählige Menschen mussten fliehen. Wenige Tage später trafen die ersten Flüchtlinge in Dortmund ein, die meisten von ihnen mit der Bahn. „Wir wussten, dass die Menschen kommen und waren vorbereitet“, sagt Swetlana Berg. Die Medien hatten einen Spendenaufruf der Bahnhofsmission veröffentlicht. „Die Hilfsbereitschaft war wirklich beeindruckend!“ Da war zum Beispiel der Caterer, der kostenlos Hühnersuppe lieferte, Mineralwasser wurde kostenlos geliefert – die Lagerkapazitäten reichten kaum aus.

Neben der Grundversorgung gab es aber auch viele individuelle Nöte; von den Sorgen um die zurückgelassenen Familienmitglieder ganz zu schweigen. Die Probleme reichten von der Vermittlung von Wohnraum bis zur Versorgung eines Dialysepatienten. „Da gab es Zeitdruck und man musste sich ans Telefon klemmen“, erzählt die resolute 59-­Jährige. Mit der nötigen Hartnäckigkeit und einer guten Portion Improvisationstalent wurden Lösungen gefunden.

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Geflüchtete aus der Ukraine

Es gab aber auch Erlebnisse, die selbst die erfahrenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahnhofsmission nicht so einfach „wegstecken“ konnten: Eine junge ukrainische Frau und ihre Mutter waren am Hauptbahnhof von einem Mann angesprochen worden, der ihnen eine Unterkunft anbot. Die entpuppte sich als ein Zimmer, das sie gemeinsam mit ihm bewohnen sollten. Auf den Protest der beiden Frauen habe der Mann geantwortet: „Ihr wohnt bei mir und gehört mir.“

Sie flohen und kehrten zum Bahnhof zurück. „Die beiden saßen weinend auf ihrem Gepäck!“, erinnert sich Swetlana Berg. Ein krasser Vorfall, der die Leiterin an die Ursprünge der Dortmunder Bahnhofsmission erinnerte: Sie war als „Mädchenschutzstelle“ am Bahnhof gegründet worden. Aus dieser Motivation wurde auch die erste Bahnhofsmission in Deutschland ins Leben gerufen: Sie entstand im Herbst 1894 am Berliner Schlesischen Bahnhof mit dem Auftrag, den in die Stadt reisenden Frauen und Mädchen Schutz vor Ausbeutung und Missbrauch zu bieten.

Die identischen Aufgaben führten bald zum gemeinsamen Auftreten evangelischer und katholischer Bahnhofsmissionen. 1910 wurde die heutige „Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission in Deutschland“ (KKBM) ins Leben gerufen. Sie ist damit „die älteste ökumenische Arbeitsgemeinschaft auf dem Gebiet der offenen diakonischen Arbeit“, heißt es auf der Internetseite der Bahnhofsmission in Deutschland. Die Dortmunder Bahnhofsmission wird gemeinsam von der evangelischen Diakonie und IN VIA – Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit getragen.

49 Ehrenamtliche sind bei der Dortmunder Bahnhofsmission aktiv. Einer von ihnen ist Reinhard Raschke. Der pensionierte Grundschullehrer ist seit sieben Jahren dabei. Über die Dortmunder Freiwilligenagentur hat der 71-­Jährige den Kontakt gefunden. So wie alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trägt er die blaue Weste mit dem Emblem der Bahnhofsmission auf dem Rücken. Neben der Arbeit in den Räumen an Gleis 2–5 gehören auch die „Runden durch den Bahnhof“ als Zweier-­Team zu den Aufgaben.

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Als Zweier-Team unterwegs

„Präsenz zeigen ist wichtig“, sagt Raschke, „und man kann direkt helfen.“ Die Umsteigehilfe, die früher oft genutzt wurde, sei allerdings nicht mehr so häufig gefragt, seit der Bahnhof barrierefrei ist. „Manchmal hilft schon eine Auskunft weiter“, sagt Raschke. In anderen Fällen ist es komplizierter. Der 71-­Jährige berichtet von zwei Frauen, die von Groningen aus nach Litauen wollten. In Dortmund stellten sie fest, dass ihre Papiere verschwunden waren. „Ein Anruf beim Fundbüro in Groningen brachte dann die Erleichterung, die Unterlagen waren dort abgegeben worden.“

Solche Erlebnisse sind auch für Christiane Gebauer und Jürgen Fuchs Momente, in denen sie wissen, dass sie sich genau am richtigen Ort engagieren: Die 68-­jährige Sozialarbeiterin ist seit gut sieben Jahren dabei, Jürgen Fuchs ist 66 und war Sozialpädagoge. Er gehört seit knapp zwei Jahren zum Team. Fuchs suchte ein Ehrenamt im kirchlichen Umfeld und fand es am Dortmunder Hauptbahnhof: „Im Neuen Testament gibt es unzählige Geschichten, in denen die Bahnhofsmission tätig geworden wäre“, ist er überzeugt. Christiane Gebauer hat besonders die Menschen im Blick, deren Leben „aus der Spur“ geraten ist: „Man bekommt hier einen anderen Blick auf die Not der Menschen.“ „Die Momente, die sie bei uns verbringen, sollen schön sein“, lautet ihr Grundsatz.

„Das gute Team“ nennen die drei Ehrenamtlichen als einen der Gründe, warum sie sich in ihrem Ehrenamt genau am richtigen Platz sehen. Nicht zuletzt die Fortbildungen und die Supervision seien mitentscheidend dafür, dass es so „gut läuft“, sagt Jürgen Fuchs. Unter anderem gibt es ein Deeskalationstraining oder Kurse für Kommunikation.

„Manchmal hilft schon eine Auskunft weiter.“ Für Reinhard Rachke sind es die Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Menschen, die die Arbeit bei der Bahnhofsmission ausmachen.
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Training und Fortbildungen

Situationen nicht eskalieren zu lassen – das ist ein Anspruch, der absolut aktuell ist. Denn während sich die Probleme früher oft um Wohnungslosigkeit und Alkoholkonsum drehten, kommen heute mehr Leute mit „Multi-­Problemen“, wie Swetlana Berg es ausdrückt: „Psychisch Kranke, die als austherapiert gelten, die unter Umständen Drogen, Tabletten und Alkohol konsumieren.“

Die Aggressionen hätten zugenommen, meint sie. Der Umgang mit solchen „unberechenbaren“ Gästen sei schwierig. Wenn es gar nicht mehr geht, gibt es immer noch die Möglichkeit, für den Tag ein Hausverbot zu erteilen, wissen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Oft genug hören sie dann am nächsten Tag den Satz: „Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß von nichts!“ „Es gibt Momente“, so Swetlana Berg, „in denen möchte man die Leute regelrecht durchschütteln.“

Manchmal hilft auch der Zufall, um ein Leben zumindest wieder ein bisschen „in die Spur“ zu bringen. Wie im Fall des Gastes, den Swetlana Berg beim Malen beobachtete. Als sie den Wohnungslosen gefragt habe, ob er auch für die Räume der Bahnhofsmission Bilder malen würde, habe er sich erst geweigert. Doch auch er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit der 59-­Jährigen gerechnet: „Ich konnte ihn schließlich doch überreden.“ So griff der Mann zu Pinsel, Farben und Leinwand. Wie groß sein Talent ist, zeigen die Bilder an den Wänden.

Manche Besucher kennen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon seit Jahrzehnten, andere tauchen nur sporadisch auf. Und wieder andere sind plötzlich verschwunden. Für einen Großteil der regelmäßigen Gäste gehört die Bahnhofsmission untrennbar zu ihrem Leben, die Mitarbeiter und die Angebote helfen ihnen, ihrem Alltag eine Struktur zu geben. Dass dieses Angebot nicht nur von Menschen in Not geschätzt wird, zeigt die Tatsache, dass die Deutsche Bahn die Räume kostenlos zur Verfügung stellt und auch die Nebenkosten übernimmt. „Wir haben ein gutes Verhältnis“, sagt die Leiterin. Die Räume sind groß und in gutem Zustand, doch Platz ist trotzdem Mangelware. So fallen die zahlreichen Schlafsäcke oben auf den Schränken im Raum neben dem Büro ins Auge. „Das sind Spenden, die wir in der kalten Jahreszeit an Obdachlose weitergeben werden“, erläutert Swetlana Berg.

Es ist zwölf Uhr: Schichtwechsel. Reinhard Raschke, Christiane Gebauer und Jürgen Fuchs werden sich gleich auf den Heimweg machen, ihre Ablösung ist da. Was heute noch passieren wird? „Mal schauen!“, sagt eine der Ehrenamtlichen. Wer den Weg zur Bahnhofsmission an Gleis 2–5 des Dortmunder Hauptbahnhofes finden wird, wird sich zeigen. Dass er oder sie dort Rat und Hilfe finden wird, ist sicher.

Text: Andreas Wiedenhaus / Fotos: Patrick Kleibold

Christiane Gebauer ist seit mehr als sieben Jahren als Ehrenamtliche aktiv. „Die Momente, die die Gäste bei uns verbringen, sollen schön sein“, sagt sie.
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Info

Die Bahnhofsmission hat ihren Ursprung in der Bekämpfung von Mädchenhandel, Prostitution und sittlichen Gefahren für Mädchen. Die erste evangelische Bahnhofsmission wurde 1894 in Berlin gegründet, die erste katholische Bahnhofsmission 1897 in München. Heute gibt es an 105 deutschen Bahnhöfen ­Bahnhofsmissionen. Die Dortmunder Bahnhofsmission an Gleis 2–5 des Hauptbahnhofes ist täglich von 9 bis 18 Uhr geöffnet. www.bahnhofsmission-­dortmund.de

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