Dr. Yesudasan Remias
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Wir müssen menschlicher werden

Was es heißt, in ein fremdes Land auszuwandern, dass weiß der Theologe und Priester Yesudasan Remias aus Indien nur zu genau. Im Interview spricht er über kulturelle Unterschiede und was Glaube und Kirche tun können, damit Menschen ankommen und sich heimisch fühlen.

Interview: Patrick Kleibold und Christina Frampton

Was war Ihr erster Eindruck in Deutschland?

Als ich das erste Mal nach Deutschland kam, hatte ich weder Angst noch fühlte ich mich fremd. Die europäische Lebensweise war mir bereits vertraut, da ich in Belgien und in den USA studiert hatte. Und die deutsche Sprache habe ich in meiner Zeit in Belgien gelernt. Mein Professor hatte mir dazu geraten, da ein Großteil der literarischen und theologischen Texte in Deutsch verfasst sind. Geholfen hat mir auch, dass ich einige Male zuvor in meinen Ferien in Deutschland war.

Doch egal, wann ich hier war, ich habe immer Menschen getroffen, die mir geholfen haben. Ich habe viele andere Länder gesehen, doch Deutschland liegt mir besonders am Herzen. Aber ein kleines bisschen Angst hatte ich damals schon, denn ich wusste nicht, welche Erwartungen die Menschen und die Kirche an mich haben.

Wie haben Sie bei Ihrer Ankunft die Kirche hier wahrgenommen?

Eine gute Frage: Die katholische Kirche in Europa ist uns Indern nicht völlig fremd, schließlich sind europäische Missionare nach Indien gekommen und haben missioniert. Bei meinem ersten Kirchbesuch hatte ich Bilder von gut besuchten Kirchen im Kopf. Ich ging davon aus, dass ähnlich viele Menschen zur Kirche gehen wie bei uns in Indien. Doch es war ganz anders. Und das hat mich verwundert. Ich stand an einem Sonntag in einer großen Kirche und habe gewartet und gewartet. Und dann kamen nur sehr wenige und das hat mich schon sehr enttäuscht.

Aus dieser Erfahrung versuche ich zu lernen: Wenn die Menschen nicht zu uns in die Kirche kommen, dann müssen wir eben zu ihnen gehen. Daher mache ich sehr häufig Hausbesuche in meiner Gemeinde. Als Inder brauche ich zum Glück keinen Termin (lacht). Bei diesen Besuchen wurde ich immer freundlich empfangen. Die Leute erzählen mir, sie gingen zwar nicht in die Kirche, seien aber dennoch katholisch. Sie sind stolz darauf katholisch zu sein, doch zur Kirche gehen sie nicht mehr. Es gibt hier einen Unterschied zwischen dem, wie die Menschen denken, und dem, wie sie handeln. Das finde ich spannend an Deutschland.

Was ist der Unterschied zwischen der Kirche in Indien und der Kirche hier in Deutschland?

Theoretisch gibt es keinen Unterschied. In meinem Heimatbistum feiern wir dieselbe Liturgie wie hier, das hat mir das Ankommen sehr erleichtert. Doch in vielen anderen Regionen in Indien wird die orthodoxe Liturgie gefeiert. Für Priester aus diesen Regionen ist gerade die Liturgie eine enorme Umstellung. Für sie ist dann fast alles neu und fremd. Und vielleicht gibt es einen Unterschied, wie die Menschen an Gott glauben.

Meinen Sie damit unterschiedliche Emotionen?

Menschen zu vergleichen ist schwierig. Es gibt sowohl in Indien als auch hier sehr fromme Menschen. Gerade hier in Paderborn habe ich sehr viele kennengelernt. Doch in Indien wird der Glaube mehr öffentlich gefeiert, hier, habe ich den Eindruck, wird der Glaube oft im Privaten gelebt.

Können Sie das genauer beschreiben?

Ich habe das Gefühl, dass die Kirche in Indien lebendiger ist. Gerade bei großen Festen zeigt sich das: Die Menschen bereiten sich intensiv da­rauf vor, sie kommen in wunderbaren Saris und sie tanzen viel. Diese Lebendigkeit sehe ich hier selten. Doch ich bin mir sicher: Sie ist noch da. Das zeigt sich, wenn wir gemeinsam einen Familiengottesdienst feiern und dann sehr viele Familien mit Kindern in der Kirche sind. Dann zeigt sich diese Lebendigkeit. Wir müssen viel öfter versuchen, diese Lebendigkeit wieder zu entzünden. Dann kommt auch die Fröhlichkeit zurück.

Sprache und Liturgie waren ihnen nicht fremd. Gab es noch etwas, das Ihnen geholfen hat, hier anzukommen?

Ich bin dankbar, dass ich so viel Offenheit und Unterstützung durch die Menschen erfahren durfte. Auch wenn die deutsche Sprache am Anfang schwierig ist, die Menschen hier sind es nicht. Zwar sind die Deutschen zu Beginn vorsichtig und gehen oftmals auf Distanz, doch wenn man sie einmal kennengelernt hat, dann schwindet diese Distanz recht schnell, sodass man ihre Nähe und Liebe spüren kann.

Wenn ein ausländischer Priester nach Deutschland kommt, ist es wichtig, wie er von dem Pastoralteam und dem Pfarrer vor Ort angenommen, begleitet und gestärkt wird. Als ich vor fünf Jahren in Schwerte ankam, wurde ich toll aufgenommen. Ich wurde begleitet, mir wurde geholfen und ich wurde in die deutsche Kultur eingeführt, dafür bin ich sehr dankbar.

Gibt es auch etwas, an das Sie sich nie gewöhnen werden?

Da fällt mir nichts ein. Wenn man hierherkommt, muss man bereit sein, sich auf alles Neue einzulassen. Ich versuche nicht zu werten oder zu urteilen. Sicherlich gibt es auch was, das ich nicht mag, doch alles hängt davon ab, wie wir auf andere Menschen zugehen und mit ihnen umgehen.

Welchen Ratschlag haben Sie für andere, die hier ankommen möchten?

Man darf nicht sagen, dies oder jenes ist mir fremd. Es ist wichtig, sich auf die Kultur einzulassen. Man muss bereit sein, etwas auszuprobieren und sich zu integrieren.

Wo sehen Sie Ihre Heimat?

Heimat ist, wo ich mich wohlfühle. Meine Heimat ist in Indien, aber jetzt bin ich in Deutschland. Wenn ich mich hier wohlfühle, und das tue ich, dann ist dies auch meine Heimat. Als Priester kenne ich es nur zu gut, an Festtagen auch mal allein zu sein. Doch ich habe mich nie allein gefühlt. Häufig werde ich von Familien aus der Gemeinde eingeladen. Das ist für mich Heimat.

Was kann Kirche dazu beitragen?

Kirche kann sehr viel tun, damit Menschen Heimat fühlen. Doch leider gelingt es uns nicht immer. Menschen treten aus der Kirche aus, weil sie eben diese Heimat nicht mehr spüren. Als Kirche müssen wir uns mehr hinterfragen und selbstkritischer werden. Wir müssen uns fragen, ob wir die Menschen mit ihren Anliegen verstehen. Wir müssen uns mehr Zeit nehmen. Doch diese Zeit haben Priester oftmals nicht. Es muss wieder gelingen, dass ein Priester nach einem Gottesdienst nicht direkt zum nächsten Ort fährt, sondern dass er sich Zeit für die Menschen nimmt, denn dann fühlen die Menschen vielleicht auch wieder so etwas wie Heimat.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich war zu Besuch bei einer Frau, die im Rollstuhl sitzt. Sie sagte mir: „Pastor, ich habe mich 40 Jahre für die Kirche engagiert. Ich habe viel getan, aber ich kann nicht mehr. Die Kirche muss zu mir kommen.“ Sie hat Recht! Als Kirche müssen wir einen Schritt mehr machen, als wir es in den vergangenen Jahren getan haben.

Weihnachten steht vor der Tür. Wie haben Sie Ihr erstes Weihnachten in Deutschland erlebt?

Zuerst einmal war es unheimlich kalt. Das kannte ich so nicht, denn in Indien ist es immer warm. Schon aus diesem Grund läuft Weihnachten ganz anders ab. Zu Hause haben wir den Großteil des Tages am Strand verbracht. Weihnachten ist in Indien mehr ein Gemeindefest, alle verbringen gemeinsam die Feiertage. Hier in Deutschland ist Weihnachten eher ein Familienfest. Überrascht war ich, wie viele Geschenke die Kinder hier bekommen. Das kenne ich so nicht. In Indien bekommen die Kinder neue Kleidung, vielleicht ein Hemd oder eine Hose. Und das Geschenk hat dann ein Ziel: die Kinder zur Kirche zu bringen, damit sie die Eucharistie empfangen. Und dann geht es wieder zum Strand. Wirklich alle sind da, essen, trinken, schwimmen und feiern die Geburt Jesu.

Klingt mehr wie eine große Strandparty.

Es ist viel mehr und viel größer als eine Party (lacht). Es ist wunderbar zu erleben. Am Abend kommen wir alle als Familie zusammen, essen gemeinsam und gehen dann schlafen. Das ist unser Weihnachten.

Gibt es einen Brauch in Deutschland, der Ihnen besonders gefällt?

Ich finde die Weihnachtsmärkte großartig und ich trinke auch gerne einen Glühwein, gerade bei diesen kalten Temperaturen. Was mir besonders gut gefällt, ist das Krippenspiel in der Kirche, das kannte ich vorher so nicht. Die Freude der Kinder zu erleben ist wirklich schön.

Sie treten bald eine neue Stelle im Siegerland an. Zu Weihnachten werden Sie an einem anderen Ort sein und viele neue Menschen kennenlernen. Vertrautes wird ersetzt durch viel Neues. Haben Sie schon darüber nachgedacht, wie Sie dort dann ankommen können?

Ja, habe ich. Ich bin sicher, auch dort gibt es viele gute und offene Menschen, die mich begleiten werden. Ich bin stets bereit dort hinzugehen, wo Gott mich hinführt. Es gibt niemals nur einen Ort, eine Per­spektive, eine Gelegenheit oder einen Menschen – es gibt immer viele Orte mit vielen Menschen, die alle wunderbar sind. So nehme ich meine neue Aufgabe an. Vielleicht passt dieser Wechsel gerade auch sehr gut zu Weihnachten: Gott wollte Mensch werden, das ist Weihnachten. Gott hat die Menschen berührt, das ist Weihnachten. Wir alle müssen menschlicher werden, das ist Weihnachten. Und das muss auch unsere Kirche.

Zur Person

Dr. Yesudasan Remiaswurde als jüngstes von sieben Kindern in eine Fischerfamilie hinein­geboren. 2001 erwarb er seinen Bachelorabschluss in Englischer Sprache und Literatur im Mar-Ivanios-­College in Trivandrum und 2003 einen Bachelor jeweils in Philosophie und Theologie im Jnana-­deepa Vidyapeeth Pune Maharashtra.

Nach seiner Priesterweihe 2008 war er für ein Jahr in einer Gemeinde in Trivandrum eingesetzt. Es folgte von 2009 bis 2011 eine Tätigkeit als Subregens im Priesterseminar. Im Jahr 2011 bestand er das Masterstudium in Englischer Sprache und Literatur an der Universität von Kerala. Am 5. Oktober 2011 kam er nach Europa. Er studierte in Leuven in Belgien Theologie und Religionswissenschaft. 2016 studierte er an der Harvard Divinity School (USA) über Grundlagen der neuen Vergleichenden Theologie.

Im Oktober 2019 kam Remias als Habilitand an die Universität Paderborn. Seitdem lehrt er Vergleichende Theologie zwischen Hinduismus und Christentum und ist zudem als Seelsorger im Erzbistum Paderborn eingesetzt, zuerst in Schwerte im Ruhrgebiet, dann in der Pfarrei Hl. Martin in Paderborn-­Schloß Neuhaus und ab Ende dieses Jahres im Siegerland.

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